Mitreißende Geschichten von Flucht und Überleben

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Julian Borger ist ein bekannter englischer Journalist, Leiter des Außenpolitik-Ressorts der britischen Tageszeitung „The Guardian“. Er erzählt die Geschichte seines Vaters, verwoben mit der von sieben anderen jüdischen Wiener Kindern. Deren verzweifelte Eltern schickten ihre Kinder kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 auf die Reise nach Großbritannien, um sie vor dem Zugriff der Nazis zu schützen.

Der Autor stammt aus der zweiten Generation von Überlebenden des Holocaust. Es ist die letzte mit direktem Kontakt zu den Überlebenden, Eltern, Großeltern und nahen Verwandten. Auf unbestimmte Weise fühlte er sich nicht ganz heimisch in seiner Umgebung. Irgendetwas fehlte. Es gab weiße Flecken in der Familiengeschichte.

Im Jahr 1983 beging sein Vater Selbstmord. Die letzte Chance für Aufklärung aus erster Hand war vorbei. Wie so viele Überlebende hatte der Vater nie über seine Kindheit und Jugend gesprochen. Julian Borger kannte nur grobe Bruchstücke, etwa dass sein Vater als Elfjähriger mittels eines Inserats im „Manchester Guardian“ nach England fliehen konnte und von einer walisischen Pflegefamilie aufgenommen wurde.

Als Borger 2020 über die Abschiebung westafrikanischer Asylbewerber recherchiert, kommt er zufällig ins Gespräch mit einer Juristin, deren Vater auf dieselbe Weise aus Wien entkommen konnte. Er beginnt in Archiven zu graben, knüpft Kontakte zu Überlebenden oder deren Nachkommen und findet erstaunliche Geschichten vom Durchhalten unter widrigsten Umständen. Den „Anschluss“ nennt er „die Urkatastrophe im Leben der Kinder“, „denn er vernichtete alles, was sie bis dahin gekannt hatten.“ Die Kinder mussten selbst ihren Weg finden, zum Teil fühlten sie sich auch noch dafür verantwortlich, für ihre Eltern Visamöglichkeiten und Dienstbotenstellungen zu suchen. Er verfolgt ihre Lebenswege und die von ihren Angehörigen nicht nur auf der beklemmenden Reise nach England, sondern auch von der Gestapo-Zentrale am Donaukanal in Wien, über Fluchtrouten nach Holland, durch KZs, bis nach Shanghai, in den französischen Widerstand und zu den Richie Boys, die nach Europa zurückkamen, um Nazis aufzuspüren. Es sind spannende, akribisch recherchierte Geschichten, nicht fiktional, sondern leider wahr.

„Was Nans [die Pflegemutter seines Vaters] mir sagte, als unser Vater sich das Leben nahm, erschütterte mich und ließ mich jahrelang verwirrt zurück – dass ich aufgewachsen war, ohne ihn wirklich zu kennen, und dass mir der Schlüssel fehlte, um zu verstehen, wie er seine Entscheidung traf.“

Julian Borger erzählt mitreißend, nie larmoyant. Ein Leseerlebnis.

Kleiner Haken der Ausgabe: Für meinen Geschmack sind im Text ein paar Fehler zu viel stehen geblieben.
Übersetzung: Hainer Kober