Schön, aber kein Muss

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Charlie Lewis ist sechzehn, das letzte Jahr der Highschool liegt gerade hinter ihm und ein langer Sommer vor ihm, bevor er sich entscheiden muss, was danach kommen soll – das College oder doch lieber ein Job, in Anbetracht dessen, dass er ohnehin in fast allen Fächern durchgefallen ist. Es war und ist eine schwere Zeit für Charlie, da seine Eltern sich getrennt haben und er bei seinem arbeitslosen, zunehmend depressiveren Vater lebt. Um möglichst wenig Zeit zu Hause zu verbringen, fährt er den ganzen Tag mit seinem Fahrrad in der Gegend herum, dabei stößt er eines schönen Tages auf Fran Fisher und ihre Schauspieltruppe, die „Romeo und Julia“ inszenieren. Da Charlie Fran unbedingt wiedersehen möchte, stößt er kurzerhand zu der Truppe und langsam beginnen die zarten Triebe der ersten großen Liebe zu keimen.

David Nicholls gelingt es einwandfrei die Gedanken- und Gefühlswelt eines Sechzehnjährigen in seinem Roman „Sweet Sorrow“ einzufangen. Die Unsicherheit, der Wunsch nach Akzeptanz und Zugehörigkeit, die Sehnsucht nach Stabilität und die Suche nach dem Sinn des Lebens und der großen Liebe – das alles hat der Autor anschaulich und überzeugend in Worte gefasst. Die Situation bei Charlie zu Hause, sein Verhältnis zu seinen drei Kumpels aus der Schule, die sich langsam entwickelnde Liebe zu Fran, die Gruppendynamik in der Schauspielertruppe – das alles bringt der Autor in seiner ganzen Komplexität sprachlich vollendet zum Ausdruck, ohne dabei ins Klischeehafte abzudriften.

„Sweet Sorrow“ liest sich wie eine Autobiographie und das ist gleichzeitig auch das etwas Problematische an dem Roman: Was in einer Autobiographie funktioniert, funktioniert nicht zwangsläufig in einem Roman. Der Ich-Erzähler, der zum Zeitpunkt der Niederschrift um die 30 ist, erinnert sich an seine Jugend zurück. An den Stellen, wo er von der Gegenwart in die Vergangenheit übergeht, bleibt er zunächst vage in der Art „ich erinnere mich, dass...“, um kurz darauf alles auf unmittelbare Weise – wie eine Art Bewusstseinsstrom – mit exakt wiedergegebenen Dialogen und Details, an die sich niemand tatsächlich erinnern könnte, zu erzählen. Der Leser ist unmittelbar im Geschehen der Vergangenheit drin. Da sich Erinnerungen im Laufe der Zeit ändern, ist vieles davon, an was sich der Autobiograph zu erinnern glaubt, tatsächlich als Selbstsuggestion zu verstehen. Eine entstandene Erinnerungslücke wird durch Erfindung, durch eine Plausibilitätsüberlegung oder durch das, was dramaturgisch passt, geschlossen. Entstandene Lücken werden somit entweder automatisch oder bewusst gefüllt. Das weiß der Leser und es wird aufgrund der übergeordneten autobiographischen Wahrheit akzeptiert. Da es sich bei „Sweet Sorrow“ allerdings um einen Roman handelt, funktioniert dies nicht wie bei einer tatsächlichen Autobiographie. Es wirkt unauthentisch. Das war es, was ich bei „Sweet Sorrow“ vermisst habe. Das Erzählte kann ja absolut glaubhaft sein – und ist es auch – aber authentisch ist es allein deswegen trotzdem nicht.

Insgesamt stellte sich „Sweet Sorrow“ als eine zähe Lektüre für mich dar. Obwohl ich das Talent des Autors, sich so fehlerfrei in die Gedanken- und Gefühlswelt eines Sechzehnjährigen (zurück-)zuversetzen, bewundert habe, hat es mir an Authentizität und Leben gefehlt. Wie ich auch von Anfang an vermutet habe, dient der autobiographische Ansatz auch viel mehr dem Zweck, kein ‚richtiges‘ Ende für den Roman finden zu müssen. Und mal ganz ehrlich: Ist es außerdem nicht auch so, dass jeder von uns in der Erinnerung der eigenen ersten großen Liebe schwelgen möchte, anstatt über die erste große Liebe eines anderen zu lesen?