tiefgründige und leichtfüßige Coming-of-Age- Geschichte

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…aber ich glaube, die erste große Liebe ist wie ein Lied, einer von diesen doofen Popsongs, die man hört und denkt, ich will nie wieder etwas anderes hören, der Song hat einfach alles, eindeutig das großartigste Musikstück, das je komponiert wurde. Natürlich würden wir es heute nicht mehr hören. Dazu sind wir zu tough, zu abgeklärt und kultiviert. Aber wenn er im Radio gespielt wird, na ja, ist es immer noch ein toller Song. Auszug Seite 502

Im Sommer 1997 hat der 16-jährige Charlie Lewis grade die Schule abgeschlossen. Kurz zuvor hatte seine Mutter die Familie verlassen und war zu ihrem neuen Freund gezogen. Während sie die kleine Schwester mitnahm, ließ sie Charlie bei dem alkoholkranken und depressiven Vater. In dieser schwierigen Situation hatte Charlie die Abschlussprüfungen ziemlich vermasselt. Während seine Mitschüler alle irgendwelche Pläne haben und eigene Wege gehen, begegnet er diesem Wendepunkt in seinem Leben mit einer gewissen Ratlosigkeit, was seine Zukunft betrifft. Ohne Ahnung, wo seine Talente und Fähigkeiten liegen, jobbt er erst mal an einer Tankstelle, ansonsten flüchtet er vor seinem arbeitslosen Vater und fährt ziellos mit dem Fahrrad durch die Gegend.

Bei einem dieser Ausflüge lernt er zufällig Fran Fisher kennen und verliebt sich Hals über Kopf in die Gleichaltrige. Die zauberhafte Fran kommt aus einer behüteten Familie, geht auf eine Privatschule und weiß ziemlich genau, was sie will. In den Sommerferien studiert sie mit einer Laienspielgruppe Shakespeares „Romeo und Julia“ ein. Um sie wiedersehen zu können, muss Charlie sich trotz fehlendem schauspielerischen Talent und Interesse den Proben der Schauspielertruppe anschließen. Im Folgenden entwickelt sich nicht nur die Romanze zwischen den beiden Jugendlichen sondern die Theaterproben sind für Charlie eine Herausforderung, bei denen er sich durchbeißen muss. Es wird für ihn ein unvergesslicher Sommer, nicht nur weil seine Tage wieder Struktur bekommen, auch gewinnt er Halt durch die sozialen Kontakte. Er schließt Freundschaften, die sich von denen seiner bisherigen Kumpels unterscheiden.

Der Roman wird aus Charlies Perspektive erzählt. Der erinnert sich nämlich 20 Jahre später daran, als er kurz vor seiner Hochzeit mit seiner Langzeitfreundin eine Einladung zu einem Jahrestreffen der Theatergruppe erhält und dort vielleicht Fran wiedersieht.

Das Cover und der deutsche Untertitel „Weil die erste Liebe unvergesslich ist“ haben mich leider überhaupt nicht angesprochen. Zarte Gräser auf einem gelben Grund versprechen eine kitschige und zuckersüße Liebesgeschichte. Das ist aber nicht der Fall und dadurch werden vielleicht auch die falschen Leser angesprochen. Diese stellen sich eher eine seichte und herzzerreißende Geschichte vor, aber Schmalz sucht man hier vergebens. Es ist für mich keine klassische Lovestory, sondern eher eine Coming-of-Age-Geschichte. Klar geht es um die erste große Liebe, aber auch um Familie und Freundschaften und das Erwachsenwerden. Dabei glorifiziert der Autor die erste große Liebe nicht und auch sein Blick auf die Jugend ist unverklärt.

David Nicholls‘ Erzählstil ist sehr warmherzig und pointiert. Indem er die Jugend des Protagonisten lebendig werden lässt, erinnerte ich mich an meine eigenen Teenager-Jahre und die damit verbundene Plan- und Orientierungslosigkeit. Dieser Teil des Lebens wird von Nicholls perfekt wiedergegeben und hier zeigt er sich als der gute Beobachter des Alltäglichen wie auch schon in seinen anderen Romanen. Seine Charaktere sind wie aus dem Leben gegriffen, zum Beispiel der Protagonist Charlie Lewis, ein ganz gewöhnlicher, unauffälliger sowie durchschnittlicher Teenager, der seinem Alter entsprechend oft impulsiv und unreflektiert handelt. Sehr berührend sind die Szenen mit seinem kranken Vater, für den er sich verantwortlich fühlt und damit natürlich total überlastet ist.

Gut gefallen hat mir an dieser nostalgischen Zeitreise in die 90er Jahre auch, wie Nicholls die Balance hält zwischen Tragik und Komik und zwischen tiefgründigen und leichtfüßigen Gedanken hin und her wechselt. Schmunzeln musste ich, wenn Charlie, der in dem Theaterstück als Benvolio, eine unwichtige Nebenfigur, ein Sidekick von Romeo, ein angepasster Beobachter eingesetzt wird und sich wundert
„…dass Leute, die mich kaum kannten, mich so perfekt besetzt hatten.“ (Auszug Seite 185)
oder wenn er sich über das gute Verhältnis wundert, dass Fran zu ihren Eltern hat
„… denn sollten wir unseren Charakter und unsere Leidenschaften nicht dadurch bilden, dass wir uns gegen die Elterngeneration auflehnten?“ (Auszug Seite 223)

Die Theaterszenen sind vielleicht etwas ausführlich geraten, hier erkennt man, dass Nicholls ein gelernter Schauspieler ist. Ansonsten hat der humorvolle Ton und präzise Blick auf die Figuren mich gut unterhalten.

Aber ich habe den Verdacht, dass die „Liebe“ in „Liebe auf den ersten Blick“ nur rückwirkend zur Anwendung kommt, dass sie wie eine orchestrale Filmmusik über eine Geschichte gelegt wird, sobald deren Ausgang bekannt ist , und einem Blick, einem Lächeln, sich streifenden Händen wird nachträglich eine Bedeutsamkeit zugewiesen, die sie in dem Moment selbst selten hatten. Auszug Seite 69