Viel mehr als nur eine Liebesgeschichte

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"Das hier ist eine Liebesgeschichte, und nun, da sie zu Ende geht, wird mir klar, dass es im Grunde nicht nur eine ist, sondern vier oder fünf: die familiäre, elterliche Liebe, die beständige, inspirierende Liebe unter Freunden und die kurze, blendend helle Explosion der ersten großen Liebe, die man erst direkt anschauen kann, wenn sie verglüht ist."

Im Sommer nach seinem Schulabschluss geht es Charlie richtig dreckig. Seine Eltern haben sich getrennt, die Mutter lebt zusammen mit der Schwester beim neuen Partner, und Charlie bleibt mit seinem depressiven, arbeitslosen und alkoholkranken Vater im Reihenhaus zurück. Als er durch Zufall in die Proben zu einer Theateraufführung von "Romeo und Julia" hineinstolpert, will er zuerst nicht bleiben - Schauspielern ist doch nur was für Weicheier! Doch Fran Fischer, die Julia des Stücks, überzeugt ihn zu bleiben. Mit Fran macht Charlie in diesem kurzen Sommer die schönsten, peinlichsten und aufregendsten Erfahrungen seines Lebens - und steht zwanzig Jahre später vor der Entscheidung, ob er seine erste große Liebe wiedersehen will.

Diese Liebesgeschichte beginnt schon unter der Prämisse, dass die Liebe nicht halten wird. Der erzählende Charlie ist schon weit in seinen Dreißigern, steht kurz vor der Hochzeit mit der Liebe seines Lebens - und die heißt nicht Fran Fisher. Man liest also gespannt, was sich zwischen diesem ersten Kennenlernen und dem späteren getrennten Leben alles ereignet hat.

Im Fokus steht in Nicholls fünften Roman der heiße Sommer des Jahres 1997. Charlie langweilt sich zu Tode, macht sich schreckliche Sorgen um seinen depressiven Vater und weiß nicht, wohin mit sich. Er stolpert in die Proben zu "Romeo und Julia" hinein, und auch wenn es nicht Liebe auf den ersten Blick ist (weder zum Theater noch zu Fran) beweist der Junge ein erstaunliches Durchhaltevermögen und wird zu Benvolio, Romeos bestem Freund. Fran und Charlie kommen sich auf humorvolle, freundschaftliche aber auch eindeutig romantische Weise näher, entwickeln ein zärtliches Gespür füreinander und finden schließlich zusammen. Soviel zum Teil der Liebesgeschichte, die mich insbesondere dahingehend positiv überrascht hat, dass sie weder verklärt erzählt wird noch holterdipolter passiert. Der Autor lässt sich Zeit mit den beiden und macht sie zu sehr authentischen Jugendlichen mit sehr authentischen Problemen. Zukunftsängste, unterschiedliche sexuelle Erfahrungen, philosophische Gespräche und augenzwinkernder Humor - das macht diese Jugendliebesgeschichte zu einem wahren Lesegenuss.

Doch weit darüber hinaus hat Charlie ganz andere Sorgen und Probleme. Ich habe damit gerechnet, einen langweiligen Charakter serviert zu bekommen, der durch seine erste Liebe geformt und gefestigt wird: "Nichts an ihm ist besonders", so steht es auf dem Buchrücken. Aber wie der Junge besonders ist! Er lebt allein mit seinem Vater, seine Mutter hat ihn mit der Schwester verlassen, er ist verzweifelt, wirkt selbst stellenweise depressiv, hat große Ängste und nichts von der Leichtigkeit, die Sechzehnjährige angeblich haben sollen. Er hat zwar Freunde, aber er erkennt selbst, dass diese Freundschaften aus Beleidigungen, Gewalt und gegenseitigem Misstrauen keinen Bestand haben können. Seine Abschlussprüfungen hat Charlie verhauen, die Zukunft ist ungewiss. Kein normaler, langweiliger Junge also, sondern einer, der ganz schön viel zu ertragen hat.

Fran macht ihm dieses Los auf unbeschwerte, natürliche Art leichter, unterstützt ihn da, wo er es braucht, vertraut ihm blind und gibt ihm Freude in dem ganzen Durcheinander. Und auch die anderen Leute beim Theater sind ein Segen für Charlie. Sie werden gute Freunde - Freundschaften, die aus Gesprächen, ironischen Witzen und Umarmungen bestehen, und langsam aber sicher erkennt Charlie, dass es diese Art Freundschaft ist, die das Leben gut machen. Das Theater und das Stück eröffnen Charlie neue Welten, poetische und selbstlose Welten, in denen er lernen und vorankommen kann. Die Intendantin des Stücks sagt einmal sinngemäß zu ihm: "Gute Schauspieler, die einfach immer weiter gut sind - das ist langweilig. Aber miese Schauspieler, die von Tag zu Tag besser werden - dafür lohnt sich die Arbeit. Charlie, du bist der Grund, warum wir das hier machen." Durch diese neue Beschäftigung gelingt es Charlie, besser mit seinem Vater zurechtzukommen, Lösungen zu finden, größer zu denken.

Zwar hält weder die Liebe zum Theater noch die Liebe zu Fran, aber dieser eine Sommer hat Charlies Leben dennoch eine neue Richtung gegeben. Seine Gedanken über das Leben und die Liebe werden in dieser Zeit tiefgründig und wahrhaftig, und er findet dank Frans Worten doch noch eine Berufung.

So ist Nicholls neuer Roman wieder einmal viel mehr als nur eine Liebesgeschichte. Es ist die Geschichte von einem verzweifelten Jugendlichen, der eine zu schwere Last zu tragen hat, und der dann in Gestalt von Fran Fisher Erleichterung, Freundschaft und Liebe. Doch auch nach der ersten großen Liebe geht das Leben weiter - und neue Lieben warten. Ein wunderschöner Roman, der das Gefühl gibt, ein echtes Leben gelesen zu haben.