Fasten und Genuss auf Sylt

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elke seifried Avatar

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Wenn der Schaffner im ICE die Fahrgäste auffordert, „Machen sie der schwangeren Dame doch bitte Platz“, man gefragt wird, wann ist es denn soweit, die 16-jährigen magersüchtigen Praktikantinnen einen bei der Arbeit den ganzen Tag umschwirren und dann auch noch die eigene Schwester meint, ein paar Kilos weniger würden ganz gut tun, sind die Tränen nicht mehr weit und ganz klar, dass dann gilt „Nele kam sich in dieser Umgebung vor wie ein Walross unter Flamingos. Wie Reiner Calmund unter Balletttänzern. Wie ein Bernhardiner unter Chihuahuas – und dazu noch uralt. Ein Auslaufmodell, für das es keine Nachfrage mehr gab.“ „Um wieder in Form zu kommen, müsste sie zehn Kilo abnehmen, besser 20. Nele beschloss, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen und ihren Körper endlich aus der Fettfalle zu befreien. Es nützte nichts: Sie musste den Stier bei den Hörnern packen, wenn sie nicht irgendwann mit 180 kg bei >>The biggest Looser<< landen wollte.“ Da auch ihr durchtrainierter Chef die Idee von einem Fastenurlaub auf Sylt für eine gute Idee hält und ihr sofort bereitwillig Urlaub gibt, kann Nele gar nicht so schnell schauen, wie sie auf der Fähre dorthin sitzt.

Während man sich als Leser zu Beginn mit Nele durch die Fastenkur quälen, mit ihr Angst haben, dass die Kiefermuskulatur verkümmern könnte, weil Muskeln ja bei Nichtbenutzung schnell abbauen, oder sich auch nach dem einen oder anderen Einlauf nicht nur um die Toilette im Dreierzimmer rangeln muss, sondern auch gilt, „Mein Darm fühlt sich auch so schon an wie frisch gekärchert.“, darf man sich, da Nele Genussmensch durch und durch ist, im zweiten Teil wieder mehr diesem hingeben und „Die Geschmacksexplosion auf ihrer Zunge war kaum auszuhalten. Es war ein Feuerwerk, wie ein kulinarischer Orgasmus nach all den Entbehrungen.“, ist dabei nur der Anfang. Dass nach einigen niederschmetternden Erfahrungsberichten bei Internet Dating Plattformen, die nichts außer der Erkenntnis, dass ganz normale, humorvolle Männer, die einen gleichaltrige Frau suchen, so überraschend wie damals Dinosaurier ausgestorben sein müssen, brachten, auch ein bisschen Liebesglück in dem mit den Worten „Ein turbulenter Smoothie aus Kalorien, Kulinarik, Chaos, Genuss und Leidenschaft...“ beworbenen Roman, nicht fehlen darf, soll noch verraten werden, aber mehr nicht.

Der kurzweilig, humorvolle Schreibstil der Autorin ist ideal, um sich einen gemütlichen Sofaabend zum Abschalten zu machen. Pointiert, witzige, teilweise ja fast schon bitterböse Beschreibungen wie, „Die roten Minipli-Locken hingen strähnig herunter wie in die Jahre gekommene Fusilli-Nudeln – und in ihren Tränensäcken hätte man problemlos seine Wochenendeinkäufe nach Hause tragen können.“ oder Vergleiche wie „der Sexappeal gleicht dem seines abgestandenen Glases Badewasser“, machen das Lesen anfangs zum Vergnügen. Irgendwann war es mir dann aber fast ein wenig viel der abschätzigen Worte für dicke Menschen wie z.B. „denn im Badezimmerspiegel erinnerte ihre cellulitedellige Figur immer noch an ein schwangeres Michelin-Weibchen nach Starkhageleinschlag.“, auch wenn Nele sich das selbst sagt. Diese werden dann aber zum Glück ad acta gelegt, als die Erkenntnis „Perfekt aussehen muss man doch sowieso nur, wenn man sonst nichts kann!“ durchsetzt. Dann wird der Roman zwar sehr vorhersehbar, vielleicht läuft es auch ein bisschen zu rund, aber der Genuss kommt auf jeden Fall nicht zu kurz und ich hatte beim Lesen oft einen wässrigen Mund ob all der Leckereien, die sich Nele gönnt und die sie kreiert. Ein paar Rezepte dazu gibt es im Übrigen im Anhang auch.

Die 52-jährige Nele war mir von Anfang an sympathisch und ich konnte mich gut in sie und ihr am Boden liegendes Selbstbewusstsein hineinfühlen. Sehr amüsiert habe ich mich über Sabine, die Kölner Frohnatur, die das mit dem Fasten nicht so genau und die sich auch kein Blatt vor den Mund nimmt. Gut gefallen hat mir auch noch Greta, die Besitzerin der Hafenklause, über die ich hier aber nicht zu viel verraten will.

Nele, anfangs so unzufrieden mit sich, ihrem Körper und dem Leben an sich, findet auf Sylt zu einigen Erkenntnissen, die vielleicht auch der einen oder anderen im Moment unzufriedenen Leserin Denkanstöße bieten kann. „Lebensfreude machte erotisch und attraktiv – unabhängig vom Körperumfang“, „Auch mit einem Luxuskörper ist das Leben nicht automatisch ein Ponyhof!“, »Es ist einfach ein riesiger Irrglaube zu hoffen, dass ein Partner einen glücklich machen kann. Um das eigene Glück muss man sich gefälligst selbst kümmern. Und der richtige Partner kann – wie ein Geschenk – das Glück dann noch verstärken.«, sind drei gute Ratschläge die man hier bekommt, allzu viel Tiefe darf man sich aber dennoch nicht erhoffen, muss ja aber auch nicht immer sein. Deutlich zu spüren ist aber auch, wie wichtig der Autorin wohl regionale, saisonale Küche und Nachhaltigkeit sind. Einige Anregungen über seinen persönlichen ökologischen Fußabdruck nachzudenken sind auf jeden Fall zu finden.

Ausgezeichnet hat mir das Regionalkolorit gefallen. Man darf nicht nur ausgedehnte Strandspaziergänge, bei denen man den Sand zwischen den Zehen und die salzige Luft fast selbst spüren kann, sich mit Nele ins kalte Nass stürzen, träumend auf die „kleinen Hobbit-Reetdachhäuschen, die auf den Hügeln standen“ blicken, oder den tollen Ausblick genießen, sondern erfährt auch einiges über die Insel. So z.B. „Die Compagnie war Deutschlands einzige Austernzucht, wie Nele aus dem Infotext der Karte erfuhr. Ein kleines Fünf-Mann-Unternehmen, das 1986 von Clemens Dittmeyer, dem Sohn von Orangensaft-Onkel Rolf H. Dittmeyer, gegründet worden war.“ Die Autorin macht auch auf so manche Schieflage aufmerksam, wie z.B. den großen Arbeitskräftemangel, weil die Mieten und Immobilienpreise ins Immense gestiegen sind und täglich zwei Stunden Pendeln auch keine Option ist.

Alles in allem ein kurzweiliger Ausflug nach Sylt, mit den richtigen Erwartungen rangegangen, wird man sicher amüsante Unterhaltung haben. 4,5 Sterne