Fehlende emotionale Reife

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Ein hochaktuelles Thema unserer Zeit wird zum Anlass genommen, die Heldin des Romans in einen Konflikt mit einem Vorfall in ihrer Vergangenheit zu stürzen. Das ist grundsätzlich ein guter Plot. Klimakleber, Letzte Generation und Klimaaktivisten sind ein Thema unserer Zeit und somit etwas, mit dem sich viele identifizieren können.
Der Konflikt der Heldin ist in einem ähnlich brisanten Umfeld angesiedelt, allerdings knapp 40 Jahre früher. Die Hausbesetzerszene in der Hamburger Hafenstraße. Auch das hat viele Gemüter damals erhitzt.
Bindeglied ist eine junge Frau, die sich auf die Straße klebt und unsere Heldin spontan dazu bringt, sich neben sie zu setzen. Das bringt alles ins Rollen.
Die Heldin wird von ihren Erinnerungen in die Vergangenheit gesogen und ein emotional unverarbeiteter Konflikt bricht auf. Das führt dazu, dass sie aus ihrem Alltag ausbricht und zusammen mit der jungen Frau eine Reise antritt, die schließlich zur Konfliktlösung führt.
Das Alltagssituationen zu Schlüsselerlebnissen werden können, kommt vor. Ein Déja vu und die Erinnerungen fließen, gute wie schlechte.
Was mich allerdings daran stört, ist die Heftigkeit, mit der Konflikt aus der Vergangenheit an die Oberfläche drängt. Inzwischen sind fast 40 Jahre ins Land gegangen. Die Heldin geht auf die sechzig zu und da soll etwas, das so lange her ist, derart Wellen schlagen? In den vergangenen 40 Jahren soll es keine Situation gegeben haben, die ebenso als Trigger hätte fungieren können? Und was ist mit der in den Jahren angesammelten Lebenserfahrung?
Es liest sich manchmal, als hätte die Heldin keine emotionale Reife in den 40 Jahren gewonnen. Als wäre es gefühlt gestern gewesen. Das ergibt für mich keinen Sinn. Und auch, dass ihr Ausbruch aus dem Alltag keine Konsequenzen für ihre Ehe hat und ausschließlich auf umfassendes Verständnis stößt, ist verwunderlich. Eine gute Ehe trägt das möglicherweise, aber das zieht Gespräche nach sich. Hierfür hat die Geschichte keinen Raum. Es hätte aber zumindest in die Schlussseiten eingeflochten werden müssen. Der Ehemann wird damit zu einer faden, schwachen Person degradiert. Was zu Beginn der Geschichte so gar nicht der Fall gewesen ist.
Auch die Parallelen zwischen der Freundin der Heldin in der Hafenstraße (Milena) und der jungen Frau in der Gegenwart muten konstruiert an. Das Menschen in gesundheitlichen Extremsituationen extrem handeln können, ist nachvollziehbar. Aber das unsere Heldin in beiden Situationen mit einer kranken Mitstreiterin agiert, ist seltsam.
In diesem Roman habe ich die emotionale Dichte der Helden, die ich aus anderen Romanen der Autorin kenne, vermisst. 40 Jahre sind eine lange Zeit, die viel Einfluss auf den Entwicklungs- und Reifeprozess eines Menschen haben. Die Reaktion der Heldin scheint mir weit überzogen und unglaubwürdig.