Themenvielfalt nicht ausgeschöpft - enttäuschend

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
buchdoktor Avatar

Von

Paolo Giordanos 40-jähriger Icherzähler heißt Paolo wie der Autor, ist studierter Physiker, arbeitet inzwischen als Journalist und schreibt an einem Buch über die Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki 1945. Paolo und seine Partnerin Lorenza haben nach einer demütigenden Phase der Kinderwunschbehandlung mit dem Thema abgeschlossen. Da Lorenza circa 10 Jahre älter ist als Paolo, habe ich zwischen den Partnern eine deutliche Differenz ihrer Reife wahrgenommen, die Lorenza auch anspricht. Die UN Klimakonferenz COP21 im Jahr 2015, über die er als Korrespondent berichten soll, bietet Paolo Gelegenheit zu einem Treffen in Paris mit seinem Freund Giulio. Der Freund ist in einen ebenfalls demütigenden Sorgerechtsstreit mit seiner Ex-Frau verwickelt. Paolos Kontaktperson zum Klimathema, Jacopo Novelli, lehrt als Klimaforscher an einer Pariser Universität. Anlässlich Paolos Paris-Besuch kreuzen sich - außer der Begegnung von Naturwissenschaften und Journalismus in Paolos Person - diverse Themen. Paolo setzt sich u. a. mit dem Zusammenhang zwischen Männerrolle, männlicher Kränkbarkeit, Einsamkeit und Terrorismus auseinander. Die chronologische Auflistung von Terroranschlägen läuft wie ein Untertitel mit dem Text mit. Zum lebenden Beispiel für die Kränkbarkeit seines Geschlechts wird zu einem späteren Zeitpunkt Novellis peinlicher Konferenz-Auftritt, bei dem er aus der Rolle des Wissenschaftlers in die Rolle des Gekränkten kippt, der bei der Besetzung einer Dozentenstelle übergangen wurde, überzeugt davon, über den besseren Score an Veröffentlichungen zu verfügen. Eine Solidaritätskampagne für den Talkshow-Star Novelli fordert Paolo heraus, zu Thema und Auftritt Stellung zu beziehen, was ihm sichtlich unangenehm ist.

Fazit
Vom Zusammentreffen naturwissenschaftlichen Denkens, Journalismus, Klimawandel und der ungewöhnlich geringen Teilhabe von (weiblichen) Wissenschaftlerinnen in der Forschung hatte ich mir sehr viel versprochen. Icherzähler finde ich jedoch häufig unergiebig, wenn ihr beschränkter Blick meine Neugier nicht befriedigen kann. Auch wenn ich Paolo einen gewissen Tunnelblick zugestehe, ging es mir hier ähnlich. Episodenhaft erzählt, dauerte es zu lange, bis der Roman mich fesseln konnte. Der Text wirkte auf mich diffus; die Figuren farblos. Vielleicht ist Paolos Lavieren zwischen seinen Kontakten im Zeitalter Sozialer Medien ja Giordanos Thema. Die Vielfalt an Fragen, die sich Paolo und Lorenza stellen (Sinnkrise in der Mitte des Lebens, Vaterrolle, Konsumismus, Kränkbarkeit durch weibliche Karriereverläufe, MeToo, Macht der Talkshow-Kultur, Selbstzensur) wurden m. A. nicht ausgeschöpft.