Gefährliches Doppelleben

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theresia626 Avatar

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London, Sommer 1889. Dr. Kronberg wird per Telegramm von Scotland Yard aufgefordert, zu den Hampton- Wasserwerken zu kommen. Eile ist geboten, denn wahrscheinlich ist ein Fall von Cholera aufgetreten. Dr. Kronberg ist der führende Epidemiologe, der Beste den man in England finden kann. Er arbeitet am Guy’s Hospital in London. Dort herrschen chaotische Zustände, chronischer Platzmangel, unzureichende Pflege der Patienten und mangelnde Hygiene. Die Fahrt zu den Wasserwerken genießt er, denn London ist er wegen des vielen Drecks überdrüssig. Die Leiche des Mannes trieb schon längere Zeit in der Themse und könnte die Wasserversorgung Londons verseucht haben, sollte er wirklich an Cholera gestorben sein. Gleichfalls am Fundort ist der beratende Detektiv Sherlock Holmes, der in wenigen Augenblicken Dr. Kronbergs Geheimnis entdeckt. Dr. Anton Kronberg ist eigentlich eine Frau, Dr. Anna Kronberg, die sich seit Jahren als Mann verkleidet, um unerkannt als Ärztin arbeiten zu können. Holmes hat jedoch kein Interesse, sie zu verraten. Anna würde ihren Wohnsitz verlieren, deportiert werden und in Deutschland im Gefängnis landen. Für Holmes ist dieser Fall zunächst noch nicht besonders interessant, trotzdem nimmt er an der anschließenden Obduktion teil.
„Teufelsgrinsen“ von Annelie Wendeberg beginnt in alter Sherlock-Holmes-Tradition, jedoch ist der Chronist der Geschichte diesmal weiblich, aber gleichfalls Arzt. Holmes verhält sich und spricht so, wie es der Leser alter Sherlock-Holmes-Geschichten gewohnt ist. An diesem Roman ist jedoch nicht nur die Krimihandlung interessant, sondern auch der historische Kontext. Die Autorin widerlegt einmal mehr mit gut recherchierten Fakten alle, die sich nach der guten alten Zeit zurücksehnen. Früher war nicht alles besser, sondern die Menschen hatten eine geringe Lebenserwartung, starben zu Tausenden an immer wiederkehrenden Epidemien, die durch verseuchtes Wasser verursacht wurden (Vgl. S. 13: "Während sie durch London kroch, wurde sie von Kadavern und Exkrementen sämtlicher die Stadt bevölkernder Spezies gesättigt."). Die Autorin beschreibt anschaulich und zum Teil recht drastisch, wie mangelnde Hygiene sogar in den Krankenhäusern für eine sehr hohe Sterberate sorgte. Und wer vermisst eine Zeit, in der Frauen wie Anna Kronberg nicht Ärztin und Wissenschaftlerin werden konnten, ohne ihr Geschlecht und ihre Identität zu verheimlichen? "Teufelsgrinsen" hat eine überaus sympathische Protagonistin, die ein sehr gefährliches Doppelleben führt und gefällt mir auch sprachlich sehr gut. Es gibt witzige Wortgefechte zwischen Dr. Kronberg und Sherlock Holmes und auch sonst erfrischend komische Passagen, zum Beispiel die Charakterisierung der Kriminalinspektoren der Metropolitan Police ("Es war ein gut gemischter Haufen Männer, deren geistige Schärfe zwischen der eines Buttermessers und der einer überreifen Pflaume variierte." S. 12).
Mir gefällt die Leseprobe ausgesprochen gut, und ich bin gespannt, wie es weitergeht.