Mein nächstes Ich

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
hasirasi2 Avatar

Von

„Du erinnerst dich an nichts, weil du an periodischer Amnesie leidest. … Es passiert in regelmäßigen Abständen, das letzte Mal vor knapp 6 Monaten …“ (S. 7) Alle 179 Tage verliert Robert sein Gedächtnis, wahrscheinlich durch eine Art Migräne. Damit ihn das nicht erschreckt bzw. er über grundlegenden Dinge Bescheid weiß, hinterlässt das jeweils aktuelle Ich dem nächsten einen Brief mit genauen Anweisungen und Verhaltensregeln – und einer Aufgabe, die ihn beschäftigt, weil er die Wohnung so wenig wie möglich verlassen soll. Seine Aufgabe ist es, aus knapp 84.000 Steinen ein riesiges Domino aufzubauen, das in komplizierten Mustern über von ihm gebaute Treppen und Podeste laufen wird.

Jeden Dienstag werden ihm von einem Mann die Lebensmittel geliefert, aber 12 Tage vor dem nächsten Gedächtnisverlust kommt plötzlich eine Frau – Julie. Irgendetwas an ihr berührt ihn, und so hat er nichts dagegen, dass sie sich langsam in sein Leben schleicht und ihm bei Aufbau der Steine hilft. „Julie mit ihrer komplizierten Vergangenheit, mit ihrer geradezu übernatürlichen Schönheit, hatte mich gesehen und gehört. Und einen winzigen Moment lang hatte sie mich verstanden und auf mich reagiert.“ (S. 94) Bis ihm klar wird, dass er sich in wenigen Tagen nicht mehr an sie erinnern können wird, sie das aber nie erfahren darf, weil das für ihn gefährlich ist. Man könnte ihn in ein Heim stecken, um ihn vor sich selbst zu schützen. „Was auch immer du tust, niemand darf von deiner Krankheit erfahren. Bleib für dich, um du selbst zu bleiben.“ (S. 11)

Robert hat sich in seinem (kurzen) Leben eingerichtet. Er hält sich strikt an die Anweisungen seines Vorgängers und weicht nur insofern ab, dass er seinem Nachfolger neben dem Brief und einigen Erinnerungsstücken, mit denen er selber nichts anfangen kann, auch ein Tagebuch der letzten Tage hinterlassen will, damit dieser besser vorbereitet ist als er. Er weiß aus Briefen und Unterlagen von seiner Krankheit und dass die genauso plötzlich, wie sie gekommen ist, auch wieder verschwinden kann, schmiedet aber trotzdem keine Zukunftspläne, sondern bereitet sich nur auf den Tag des neuerlichen Vergessens vor. Und dann platzt Julie in sein Leben und die festen Tagesabläufe. Sie holt ihn aus seiner Komfortzone, indem sie ihn aus der Wohnung lockt, nach seinen Erinnerungen fragt und ob er irgendwelche Hinweise und auf sein Vorleben hat. Das bringt ihn zum Nachdenken, denn: „Die Vergangenheit mochte ja vor meinem Bewusstsein versteckt sein, aber die Spuren waren überall, wenn man nur wusste, wo man danach suchen musste.“ (S. 29) Sein Unterbewusstsein gaukelt ihm plötzlich eine Variante seiner Zukunft vor, in der Julie von allem weiß und sich um alles kümmert. Dabei kämpft sie selber jeden Tage gegen die Schatten ihrer eigenen Vergangenheit und Gegenwart.

„The Beautiful Fall“ ist eine sehr ungewöhnliche und berührende Liebesgeschichte, die sich ganz anders entwickelt als erwartet. Robert und mit ihm die LeserInnen sehen sich plötzlich mit essentiellen Fragen konfrontiert. Wer sind wir? Was ist unser Bewusstsein, unsere Identität und wie verändert sich im Laufe des Lebens unsere Erinnerung, in wieweit kann sie uns täuschen oder sogar betrügen? „Niemand kann so ehrlich sein. Niemand kann die ganze Geschichte erzählen, ohne sich vor ihren Auswirkungen auf die Zukunft zu fürchten. Wir alle verstecken, beschönigen und vergessen. … Niemand kann so ehrlich sein, am allerwenigsten wir selbst.“ (S. 248)

Mein Tipp für alle, die ungewöhnliche Liebesgeschichten und / oder den Film „50 erste Dates“ lieben.