Dranbleiben lohnt sich!
Wohoho... Auf „The Deer and the Dragon“ war ich total neugierig – immerhin verspricht der Klappentext eine spannende, mystische Story. Nun, wer das erste ¼ übersteht, wird auf eine unterhaltende Geschichte, skurrile Freundschaften, rührende Wahrheiten und jede Menge widernatürliche Hürden stoßen.
Doch zuvor? Lange bleibt unklar, um was es geht oder wohin die Autorin möchte. Der Aufbau wirkt genauso wirr wie die seitenlangen, nichts zum Geschehen beitragenden Ausschweifungen, die nicht nur vom Eigentlichen ablenken, sondern auch rege für Irritation und Langeweile sorgen. Ja, die ersten 25 % glichen einem Gebilde aus Fragmenten, die die Protagonistin in kein sonderlich sympathisches Licht rückten.
Marlwo Thorson ist 26 Jahre, studierte Literatur und fasste, bevor sie zu einer erfolgreichen Autorin wurde, Fuß in der Escort- und Sexarbeitsbranche. Dass die heute im Luxus lebende, introvertierte Mittzwanzigerin in ihrer Kindheit Opfer von Mobbing und familiärer Gewalt, Manipulation und Fanatismus wurde, in Armut und Isolation, mit Angst in den Knochen, aufwuchs, selbst jetzt noch unter den traumatischen Erfahrungen und Flashbacks leidet, würde niemand, der diesem wandlungsfähigen Menschen gegenübertritt, auch nur erahnen. Ein Überbleibsel dieser Zeit findet sich in ihrem selbstzerstörerischen Lebensstil – und in der Halluzination, die sie seit Jahrzehnten begleitet. Die ihr damals Trost, Verständnis schenkte und heute die Nächte mit pulsierender Aufregung, mit Leidenschaft füllt. Die ihr half, wo sie konnte, sie liebte, bedingungslos und frei jeglicher Urteile …
Plötzlich nimmt das Leben der Autorin von mythisch angehauchten Romanen jedoch eine Wendung nach der anderen, und was als „überbordende Fantasie“ diagnostiziert, als Ketzerei bestraft, mit Medikamenten behandelt wurde, diese Psychose, die Marlwo ebenso lange schon fasziniert wie sie sie ängstigt, entpuppt sich als real. Als echt. Genau wie die Wesen, über die sie schreibt. Jene, zu denen sie im Kindesalter stundenlang betete – all das, was ihr Leben geprägt hat, was die junge Frau zu fürchten lernte, ist wahr.
Und nun ist es ein fataler Satz, ein im Wutrausch gesprochener Befehl, der ihre einstige Konstante verbannte, so weit, dass selbst der Herr der Hölle den Dämonen nicht finden kann – wie sollte es dann einer einfachen Sterblichen gelingen?
Sobald Fauna, eine nordische Nymphe im Boho-Style, der überforderten, sich dem Wahnsinn nähernden Schriftstellerin in ihrer Wohnung auflauert und ihr nicht mehr von der Seite weicht, gewinnt die Story signifikant an Spannung, Ereignissen, Informationen und Humor. Die sich zwischen den Frauen entwickelnde Dynamik ist pure Unterhaltung – Fauna liebt Süßes, ist so harsch wie liebreizend und stößt ihre neue Freundin immer wieder auf deren begrenztes Denken. Bis Marlow Logik, alles, was ihr eingetrichtert wurde, und die Selbstzweifel loslässt, muss einiges geschehen – und sie es mit eigenen Augen sehen …
Je mehr Sagengestalten ihr begegnen, je mehr sie das tatsächliche Ausmaß des Möglichen, die Facetten des Universums und Seins begreift; je deutlicher Marlow ihr eigener Zyklus und Calibans Liebe, die Bedeutung von „verherrenden Gefallen" und „Krieg der Welten" bewusst wird, umso bereitwilliger schlägt sie sich mit ihren neuen FreundInnen durch Pantheons und Zeiten, stellt sich Göttlichkeiten in den Weg und riskiert alles. Um ihren Schatten zurückzubekommen.
Mit Azrames hat das unterschiedliche Frauenpower-Duo einen wahren Assassinen im Rücken – das Verhältnis zwischen dem Krieger und der Nymphe prickelt, nimmt Kontur an, offenbart eine weitere unerwartet romantische Tragik. Denn auch die Vergangenheit von Marlow und ihrer ‚Halluzination‘ weist Herzschmerzpotenzial auf.
Insgesamt waren die Figuren sehr anschaulich, teils kreativ, soweit möglich authentisch, wenn auch nicht durchgängig vertrauenswürdig, gezeichnet. Viele Entwicklungen verströmen eine gewisse Skurrilität und Witz, jedoch kommen auch Spannung und Worldbuilding nicht zu kurz. Informationen über Gegebenheiten, Hierarchien und die einzelnen (oft unbekannteren) „Mythen" sind so im Verlauf verstreut, dass sich nach und nach ein ausreichendes Bild ergibt.
Piper CJs Ton wirkte einerseits flapsig-modern, andererseits lebendig, wenn der Stil selbst öfter nach „Hauptsache verschachtelt" und „weg vom Eigentlichen" schreit. Ein wenig mehr Fokus hätte der Handlung definitiv die fehlende Griffigkeit und den nötigen Ernst verliehen. Nichtsdestotrotz war es ein spaßiger Ritt, herauszufinden, zu was Marlow fähig ist, wo sich Caliban aufhält und was Silas, der Engel der „oberen Seite“, von der Hellsichtigen – außer einer Bindung – will. Ganz toll fand ich die Abwechslung, die der Roman bereithält; die raschen Stimmungs-, Szenen- und Settingwechsel sorgen dafür, dass die ~560 nur so dahinflogen und ich nach zwei Nachmittagen leider schon am Ende war.
Übrigens: Wenn die Darstellung der Hölle Tatsachen entspricht, dann ist das mein Platz für die Ewigkeit.
Dass Piper in ihrem Roman nicht an „Wesen" aus Folklore, Mythologien und Glaubensrichtungen spart, diese miteinander verbindet und originell einbettet, Traumata durch und Kritik an Religion thematisiert, diese gar unterschwellig hinterfragt, und Escort-/Sexarbeit entstigmatisiert, macht „The Deer and the Dragon" durchaus zu einer einfallsreichen, fesselnden Story. Zusätzlich finden wir intensive Augenblicke und tiefe Gefühle, Mut, Freundschaften, casual Queerness sowie alles verändernde Geheimnisse und Schicksale – dafür überraschend wenige explizite Szenen/Spice.
Es gibt zahlreiche Fragen, deren Antwort gesucht (erbettelt) werden muss, viele Probleme und Konflikte, uralte Fehden, Pakte, Intrigen und Regeln, die niemals gebrochen werden sollten. Die Protagonistin vollzieht eine deutliche Entwicklung, wird offener – trotz Verzweiflung, Schuld und Sehnsucht. Letztlich schlich sich diese Frau, in deren Adern nordisches Blut schlummert, genauso in mein Herz wie Fauna und Azrames.
In den letzten Kapiteln bahnen sich Aufatmen und Hoffnung an, doch nur einen Wimpernschlag lang, bis alles erneut in sich zusammenfällt …
Anm: Das Vorwort hat mich ungemein berührt und sollte nicht ausgespart werden.
Lasst euch einfach drauf ein. Ich für meinen Teil kann „The Fox and the Falcon“ jetzt kaum erwarten.
Doch zuvor? Lange bleibt unklar, um was es geht oder wohin die Autorin möchte. Der Aufbau wirkt genauso wirr wie die seitenlangen, nichts zum Geschehen beitragenden Ausschweifungen, die nicht nur vom Eigentlichen ablenken, sondern auch rege für Irritation und Langeweile sorgen. Ja, die ersten 25 % glichen einem Gebilde aus Fragmenten, die die Protagonistin in kein sonderlich sympathisches Licht rückten.
Marlwo Thorson ist 26 Jahre, studierte Literatur und fasste, bevor sie zu einer erfolgreichen Autorin wurde, Fuß in der Escort- und Sexarbeitsbranche. Dass die heute im Luxus lebende, introvertierte Mittzwanzigerin in ihrer Kindheit Opfer von Mobbing und familiärer Gewalt, Manipulation und Fanatismus wurde, in Armut und Isolation, mit Angst in den Knochen, aufwuchs, selbst jetzt noch unter den traumatischen Erfahrungen und Flashbacks leidet, würde niemand, der diesem wandlungsfähigen Menschen gegenübertritt, auch nur erahnen. Ein Überbleibsel dieser Zeit findet sich in ihrem selbstzerstörerischen Lebensstil – und in der Halluzination, die sie seit Jahrzehnten begleitet. Die ihr damals Trost, Verständnis schenkte und heute die Nächte mit pulsierender Aufregung, mit Leidenschaft füllt. Die ihr half, wo sie konnte, sie liebte, bedingungslos und frei jeglicher Urteile …
Plötzlich nimmt das Leben der Autorin von mythisch angehauchten Romanen jedoch eine Wendung nach der anderen, und was als „überbordende Fantasie“ diagnostiziert, als Ketzerei bestraft, mit Medikamenten behandelt wurde, diese Psychose, die Marlwo ebenso lange schon fasziniert wie sie sie ängstigt, entpuppt sich als real. Als echt. Genau wie die Wesen, über die sie schreibt. Jene, zu denen sie im Kindesalter stundenlang betete – all das, was ihr Leben geprägt hat, was die junge Frau zu fürchten lernte, ist wahr.
Und nun ist es ein fataler Satz, ein im Wutrausch gesprochener Befehl, der ihre einstige Konstante verbannte, so weit, dass selbst der Herr der Hölle den Dämonen nicht finden kann – wie sollte es dann einer einfachen Sterblichen gelingen?
Sobald Fauna, eine nordische Nymphe im Boho-Style, der überforderten, sich dem Wahnsinn nähernden Schriftstellerin in ihrer Wohnung auflauert und ihr nicht mehr von der Seite weicht, gewinnt die Story signifikant an Spannung, Ereignissen, Informationen und Humor. Die sich zwischen den Frauen entwickelnde Dynamik ist pure Unterhaltung – Fauna liebt Süßes, ist so harsch wie liebreizend und stößt ihre neue Freundin immer wieder auf deren begrenztes Denken. Bis Marlow Logik, alles, was ihr eingetrichtert wurde, und die Selbstzweifel loslässt, muss einiges geschehen – und sie es mit eigenen Augen sehen …
Je mehr Sagengestalten ihr begegnen, je mehr sie das tatsächliche Ausmaß des Möglichen, die Facetten des Universums und Seins begreift; je deutlicher Marlow ihr eigener Zyklus und Calibans Liebe, die Bedeutung von „verherrenden Gefallen" und „Krieg der Welten" bewusst wird, umso bereitwilliger schlägt sie sich mit ihren neuen FreundInnen durch Pantheons und Zeiten, stellt sich Göttlichkeiten in den Weg und riskiert alles. Um ihren Schatten zurückzubekommen.
Mit Azrames hat das unterschiedliche Frauenpower-Duo einen wahren Assassinen im Rücken – das Verhältnis zwischen dem Krieger und der Nymphe prickelt, nimmt Kontur an, offenbart eine weitere unerwartet romantische Tragik. Denn auch die Vergangenheit von Marlow und ihrer ‚Halluzination‘ weist Herzschmerzpotenzial auf.
Insgesamt waren die Figuren sehr anschaulich, teils kreativ, soweit möglich authentisch, wenn auch nicht durchgängig vertrauenswürdig, gezeichnet. Viele Entwicklungen verströmen eine gewisse Skurrilität und Witz, jedoch kommen auch Spannung und Worldbuilding nicht zu kurz. Informationen über Gegebenheiten, Hierarchien und die einzelnen (oft unbekannteren) „Mythen" sind so im Verlauf verstreut, dass sich nach und nach ein ausreichendes Bild ergibt.
Piper CJs Ton wirkte einerseits flapsig-modern, andererseits lebendig, wenn der Stil selbst öfter nach „Hauptsache verschachtelt" und „weg vom Eigentlichen" schreit. Ein wenig mehr Fokus hätte der Handlung definitiv die fehlende Griffigkeit und den nötigen Ernst verliehen. Nichtsdestotrotz war es ein spaßiger Ritt, herauszufinden, zu was Marlow fähig ist, wo sich Caliban aufhält und was Silas, der Engel der „oberen Seite“, von der Hellsichtigen – außer einer Bindung – will. Ganz toll fand ich die Abwechslung, die der Roman bereithält; die raschen Stimmungs-, Szenen- und Settingwechsel sorgen dafür, dass die ~560 nur so dahinflogen und ich nach zwei Nachmittagen leider schon am Ende war.
Übrigens: Wenn die Darstellung der Hölle Tatsachen entspricht, dann ist das mein Platz für die Ewigkeit.
Dass Piper in ihrem Roman nicht an „Wesen" aus Folklore, Mythologien und Glaubensrichtungen spart, diese miteinander verbindet und originell einbettet, Traumata durch und Kritik an Religion thematisiert, diese gar unterschwellig hinterfragt, und Escort-/Sexarbeit entstigmatisiert, macht „The Deer and the Dragon" durchaus zu einer einfallsreichen, fesselnden Story. Zusätzlich finden wir intensive Augenblicke und tiefe Gefühle, Mut, Freundschaften, casual Queerness sowie alles verändernde Geheimnisse und Schicksale – dafür überraschend wenige explizite Szenen/Spice.
Es gibt zahlreiche Fragen, deren Antwort gesucht (erbettelt) werden muss, viele Probleme und Konflikte, uralte Fehden, Pakte, Intrigen und Regeln, die niemals gebrochen werden sollten. Die Protagonistin vollzieht eine deutliche Entwicklung, wird offener – trotz Verzweiflung, Schuld und Sehnsucht. Letztlich schlich sich diese Frau, in deren Adern nordisches Blut schlummert, genauso in mein Herz wie Fauna und Azrames.
In den letzten Kapiteln bahnen sich Aufatmen und Hoffnung an, doch nur einen Wimpernschlag lang, bis alles erneut in sich zusammenfällt …
Anm: Das Vorwort hat mich ungemein berührt und sollte nicht ausgespart werden.
Lasst euch einfach drauf ein. Ich für meinen Teil kann „The Fox and the Falcon“ jetzt kaum erwarten.