Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein

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alekto Avatar

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In Brooksville, Oklahoma glaubt der junge Albert den Warnungen seiner Eltern vor einem nahenden Tornado nicht so recht. So ignoriert er ihr Verbot und will seinen Freund auf der Farm seiner Eltern besuchen. Als Albert dort eintrifft, wird er vom Tornado überrascht. Da die Zeit nicht ausreicht, in den Schutzraum der Familie Jones zu flüchten, versteckt Albert sich im Hühnerstall. Und er hat mehr Glück als Verstand, als der Tornado den Stall zwar über Albert zusammenbrechen lässt, der Junge dabei aber nur leicht verletzt wird. Eingeklemmt unter den Trümmern des Stalls muss er sich dann jedoch erst dem wahren Grauen stellen. Das kommt in Gestalt von Martin auf die Farm, der die ganze Familie Jones ermordet und dabei auch vor den Kindern nicht Halt macht. Seine Taten tarnt Martin als Werk des Tornados, um vor seinem Verschwinden noch eine Totenmesse für die Familie abzuhalten. Doch weshalb muss Martin die Familie mit der Waffe des Familienvaters erschießen? Und für welche Sünden werden sie von ihm bestraft? FBI Special Agent Dupree und sein Team, zu dem vorübergehend auch Subinspectora Amaia Salazar gehört, nehmen die Spur dieses Serienmörders, der ganze Familien auslöscht, auf.

Todesspiel ist Teil eines Romanzyklus von Dolores Redondo, der um die Nordseite des Herzens kreist und abgesehen von diesem Thriller wohl primär in Spanien spielen wird. Todesspiel besteht aus zwei Teilen, die die Ereignisse bis zum Eintreffen von Hurrikan Katrina bzw. nach dem Sturm schildern. Der in den USA angesiedelte Handlungsstrang konzentriert sich dabei auf den Zeitraum vom 24. August bis 16. September 2005 und folgt dem FBI Team unter Leitung des berühmt berüchtigten Special Agent Dupree, das den Serienmörder, den sie den Komponisten nennen, jagt. Geschildert werden die Ereignisse primär aus Sicht von Subinspectora Amaia Salazar, aber auch aus Sicht von Agent Dupree und anderen Mitgliedern seines FBI Teams, von der Cousine von Duprees Vater Nana, die in New Orleans lebt und dort die Katastrophe, die Hurrikan Katrina hinterlässt, am eigenen Leib erleben muss, sowie vom Täter. Martin ist als sog. apostolischer Mörder getrieben von seinem unerschütterbaren Glauben und überzeugt von seiner moralischen Überlegenheit. Für seine Taten reist er durchs ganze Land, um die Orte aufzusuchen, an denen Stürme, Tornados oder Hurrikans eine Spur der Verwüstung hinterlassen haben, weil Martin diese als Zeichen Gottes ansieht.
Zudem gibt es eine zweite Zeitebene, die von Amaias Kindheit in Elizondo handlet und die aus ihrer Sicht, der ihrer Tante Engrasi, ihres Vaters Juan sowie weiterer Personen wie etwa des Schäfers Ignacio, der Amaia den von ihr so geliebten Collie Ipar schenkt, erzählt wird. Amaia war ein intelligentes Mädchen, das bei ihrer resoluten, klugen Tante Engrasi, die in Paris Psychologie studiert hat, lebte. Sie war aber auch ein eigenartiges Kind, das oft für sich blieb und selten das Haus verließ. Amaia ist von den damaligen verstörenden Ereignissen noch als Erwachsene gezeichnet und die Angst, die sie als kleines Mädchen verfolgte, hat sie nie ganz überwinden können. Sie hat nur gelernt, damit umzugehen, indem sie sich dieser stellt.
Die ungewöhnliche Erzählstruktur dieses Thrillers von Dolores Redondo, die von diversen Sprüngen in Zeit wie Raum und Wechseln in der Perspektive geprägt ist, hat mir gut gefallen. Insgesamt ist dies so gelungen konstruiert, dass die verschiedenen Kapitel gut ineinandergreifen, wenn die Autorin aufzeigt, wie diese zusammenhängen.

Amaia Salazar ist eine interessante Protagonistin. Mit ihren 25 Jahren ist sie nun Subinspectora der Policía Foral in Navarra, doch als Zwölfjährige war sie sechzehn Stunden lang im Wald verschwunden. Als Polizistin löst sie mit ihrem guten Instinkt, der einer Eingebung gleicht, Fälle so wie das Verschwinden einer jungen Krankenschwester und hat dabei keine Probleme anzuecken. Der von ihr überführte Täter ist ein Arzt, der aus einer so angesehenen Familie stammt, dass ihn keiner ihrer Kollegen je verdächtigt hätte. Amaia diente mir als Identifikationsfigur, da sie so einfühlsam gerade mit jugendlichen Opfern oder Kindern umzugehen wusste, dass sie zu ihnen durchzudringen vermochte.
Neben Amaia hat Dolores Redondo mit Agent Dupree einen ebenso originellen wie vielschichtigen Charakter erschaffen. Dupree ist in New Orleans groß geworden, auch wenn er vor Hurrikan Katrina für zehn Jahre nicht mehr in der Stadt gewesen ist. Er ist ein genialer, doch eigenwilliger Ermittler, der kaum zu kontrollieren ist, da für ihn nur die Ermittlung zählt. So konzentriert er sich ganz auf seine Jagd nach dem Täter und schert sich wenig um Politik oder Bürokratie, wenn die ihm bei seiner Arbeit nur im Weg stehen. Dupree bemerkt gleich das Potenzial, das in Amaia steckt, als er in ihr eine verwandte Seele erkennt, die so wie er durch die traumatischen Ereignisse ihrer Kindheit geprägt ist.
Und so erzählt dieser Thriller von Dolores Redondo eigentlich nicht nur einen Fall, sondern drei: den um den Komponisten, der im Schatten von Stürmen, Tornados und Hurrikans mordet, den aus Amaias Kindheit und den aus Duprees Vergangenheit. Amaias rätselhaftes Verschwinden als Zwölfjährige wirft gleich zu Beginn viele Fragen auf. Wie konnte sie in nur wenigen Stunden eine Strecke von dreißig Kilometern zurücklegen? Und inwiefern hängt ihr Verschwinden mit dem Geheimnis, das zu bewahren sie ihrem Vater an diesem Tag versprechen musste, zusammen? Da letztlich nur der Fall um den Komponisten am Ende des Todesspiels vollständig aufgeklärt wird, hoffe ich auf ein Wiedersehen nicht nur mit Amaia, das zum Schluss von der Autorin in weiteren Romanen in Aussicht gestellt wird, sondern auch mit Agent Dupree.

Spannend ist dieser Thriller, da er zum einen geschickt konstruiert zwischen seinen verschiedenen Handlungssträngen, Zeitebenen und Schauplätzen wechselt. Zum anderen zieht das Buch seine Spannung aus seiner Intensität. Amaias schlimme Kindheit, die von ihren Schrecken und Albträumen geprägt ist, ist mir so nahe gegangen wie die erbarmungslosen Taten des Komponisten, der ganze Familien - einschließlich der ältesten und jüngsten Mitglieder - ohne zu zögern auslöscht. Auch habe ich die Beschreibung der Katastrophe, die New Orleans in Gestalt von Hurrikan Katrina heimgesucht hat, als eindringlich empfunden. Das Schlimmste kommt erst nach dem Sturm, als die Stadt geflutet wird und damit die meisten Straßen unpassierbar werden - außer mit einem Boot. Der Strom ist ausgefallen, die Krankenhäuser überlastet und die nicht evakuierten Menschen, die etwa im Superdome Schutz vor dem Hurrikan suchten, werden weitestgehend sich selbst überlassen, ohne dass Hilfe eintrifft, obwohl ihnen weder ausreichend Wasser noch Nahrung, medizinische Versorgung oder auch nur eine Toilette zur Verfügung steht.
Zudem sind die Beschreibungen der Natur so außergewöhnlich wie gelungen. Die Sümpfe um New Orleans, die Agent Dupree und sein Team nach Hurrikan Katrina aufsuchen, und die Wälder um Elizondo, in denen sich Amaia als Kind verirrt hat, wirken erschreckend düster, zugleich aber irritierend schön. Unheimlich macht die Sümpfe, dass Schlangen aufgrund des stark gestiegenen Wasserspiegels in die Bäume gekrochen sind, um sich von dort auf ihre Beute herabfallen zu lassen. Und als Amaia sich im Wald verlaufen hat, fürchtete sie sich vor dem Gewitter, von dem sie überrascht wurde.
Eine nicht unbedeutende Komponente stellen die Mystery Elemente dar, um die Dolores Redondo das Todesspiel bereichert hat. Im Verlauf dieses Thrillers gewinnen diese an Bedeutung, obwohl sie weniger die Suche nach dem Komponisten betreffen, sondern sich auf die Geschehnisse in Amaias Kindheit sowie den aus Duprees Vergangenheit begründeten sich bis in die Gegenwart erstreckenden Fall beschränken. Denn Amaia ist in Elizondo groß geworden, das noch heute für die von der Inquisition zu Beginn des 17. Jahrhunderts geführten Hexenprozess berühmt ist, indem Dorfbewohner der Hexerei beschuldigt wurden. Und in Duprees Vergangenheit spielt Baron Samedi - einer der Loas - eine wichtige Rolle. Dazu passt das umfassende Glossar, von dem dieser Thriller abgerundet wird und in dem Begriffe wie etwa Itxusuria - der Seelenkorridor aus baskischen Mythen - erläutert werden.