Adel verpflichtet !

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„Adelig sein heisst nicht, mehr Rechte als andere zu haben, sondern sehr viel mehr Pflichten.“ (Graf Aucassin Neville, Henris Vater, S. 58)

„Adelig sein heisst, weniger Rechte und viel mehr Pflichten zu haben als andere.“ (Graf Henri Neville, S.58)

Covergestaltung:
Das Cover hat mich sofort angesprochen. Die junge Frau in einem Kleid und mit Kopftuch, welche die gleiche Musterung und Farbe wie die Tapete im Hintergrund haben.
Möchte sich die Frau praktisch unsichtbar machen, d.h. aufhören zu existieren? Somit würde es gut zur Geschichte passen.
Das einzige was am Coverbild stört, ist dass es auf mich eher den Eindruck macht, dass die Geschichte in den 1960er (?) Jahren spielen wird…

…aber eigentlich umschliesst die Geschichte einen Zeitraum von Ende September bis Anfang Oktober 2014!

Inhalt:
Graf Henri Neville wird von Madame Portenduere, einer Wahrsagerin, gebeten zu ihr zu kommen, um bei ihr seine 17-jährige Tochter Sérieuse (wie kann man einem Kind bloss solch einen Namen geben, wie wenn eine Jugendliche ernst wäre) welche die Nacht im Wald verbringen wollte und halb erfroren von ihr aufgefunden wurde, abzuholen.
Nicht nur, dass diese Wahrsagerin seine väterliche Kompetenz in Frage stellt, nein, sie muss im auch noch prophezeien, dass ausgerechnet er an der von ihm (wahrscheinlich zum letzten Mal) ausgerichteten Garden Party - sein ganzer Stolz, da er der geborene Gastgeber ist und weil diese Party berühmt ist in dieser Region - auf dem Familiensitz der Nevilles dem Chateau de Pluvier einen Gast töten wird.
Dabei hat Henri, der eher empfindsame, zur Melancholie neigende Mann doch noch andere Probleme:
Zum einen, hat er sich und seine Familie durch seine Rechtschaffenheit in den Bankrott getrieben und muss nun seine älteste Liebe (das Schloss) verkaufen.
Zum anderen macht ihm seine Tochter Sérieuse, die so ganz anders ist, als ihre beiden älteren, schönen, bezaubernden und talentierten Geschwister Oreste und Electre schon seit längerem Sorgen. Aus dem einst so lebenslustigen und fröhlichem Kind, ist (seit sie 12.5 Jahre alt war, aus welchem Grund auch immer) eine in sich verschlossene, lebensüberdrüssige und empfindungslose Pubertierende geworden.
Aber Sérieuse kommt diese Prophezeiung gerade recht. Sie macht ihrem Vater den Vorschlag: Töte mich!

Meinung:
Die kurze Geschichte „Töte mich“ (ca. 100 Seiten lang, OT „Le crime du Comte Neville“ -> „Das Verbrechen des Grafen Neville“, was eine Anspielung auf Oscar Wildes Erzählung: „Lord Arthur Saviles Verbrechen“ ist, welches im Buch auf S. 24 erwähnt wird) war das erste Buch, welches ich von Amélie Nothomb gelesen habe. So kann ich nicht sagen, ob jedes ihrer Bücher diesen, doch ziemlich ungewöhnlichen, vielleicht sogar gewöhnungsbedürftigen, Schreibstil hat, der mir persönlich jedoch sehr gut gefallen hat (am liebsten würde ich hier nur eine Rezension aus lauter Zitaten schreiben).

Auf den ersten (Lese-)Blick scheint der Roman in einer sehr einfachen Sprache gehalten zu sein und man denkt dann auch, die Geschichte wäre so einfach zu lesen und zu verstehen. Aber eigentlich ist die Geschichte doch ziemlich schwierig.

Es geht vor allem um Graf Neville und seine Tochter Sérieuse und deren beiden „psychologische Profile“. Aber auch um, sozusagen: „Adel verpflichtet“ und dem Zerfall des „alten Adels“ und deren Art der Erziehung, welches die Kinder in einen Widerspruch zwängen, mit dem die beiden älteren Kinder Oreste und Electre umzugehen gelernt haben, Seriéuse, wie es den Anschein hat, weniger.
Was mit Sérieuse aber passiert ist, als sie 12.5 Jahre alt gewesen war, wird nicht aufgeklärt…
Sind es vielleicht doch nur die Hormone, welche sie dazu bringen, ihren eigenen Vater aufzufordern sie zu töten, oder ist ihr vielleicht etwas Schlimmes zugestossen? („Du wirst schuldig sterben, wie wir alle!“, S.98, Sérieuse zu ihrem Vater)

Die Szenen/Aufeinandertreffen zwischen Sérieuse und ihrem Vater Henri sind auch immer von einer ganz eigenen Komik (vielleicht auch leichtem „Slapstick“) oder doch eher Melancholie/Sarkasmus (?) geprägt. Jedenfalls fand ich dieses Vater-Tochter-Verhältnis ziemlich seltsam.

Die ganze Geschichte hatte aber auch etwas Märchenhaftes (steht auch auf der Rückseite des Schutzumschlages: „Ein Märchen voller böser Vorzeichen und mit einem Happy End“).
Was mir an diesem „Märchenhaftem“ aber nicht gefallen hat, war die ständige Erwähnung von „Schönheit“ etc. Die Gräfin Alexandra ist ein wahre Schönheit (welche übrigens 20 Jahre jünger als Henri ist) und die zwei älteren Kinder haben diese Schönheit geerbt und sind auch noch talentiert und weiss was sonst noch, nur Sérieuse ist bloss hübsch (das muss doch bei ihr zu einem Komplex führen und ausserdem finde ich, dass die dauernde Erwähnung von Schönheit in einer Geschichte etwas Triviales hat). Aber so wie es aussieht ist das eben auch „Adel verpflichtet“.
(Weibliche Schönheit war seine harte Droge. S.19, über Graf Henri Neville)

Die Geschichte scheint mir auch ein wenig autobiographisch angehaucht zu sein. Seite 22 wird erwähnt, dass die Nothombs (!) ihr Schloss Le Pont d’Oye verkauft hätten. Amélie Nothomb scheint also zu wissen, wovon sie schreibt.

Fazit:
Ein Roman über die Schwierigkeit, in der heutigen Zeit noch zur (aussterbenden alten Art der) Aristokratie zu gehören und über klassische Literatur und Musik…
oder doch einfach „Ein Märchen voller böser Vorzeichen und mit einem Happy End“?

Ich habe diese Geschichte jedenfalls (trotz der „Märchenschönheit“) gerne gelesen, weil es einmal etwas anderes als die „alltägliche“ Literatur war.
Und als ich die letzten beiden Sätze gelesen hatte, musste ich nur herzhaft lachen!