Schwierige Zeiten

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buecherfan.wit Avatar

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Sybil Volks´ Roman "Torstraße 1" beginnt Ende der 20er Jahre mit der Eröffnung des Kreditkaufhauses Jonass durch das Ehepaar Alice und Heinrich Grünberg. Die Eltern wissen nicht, dass ihr minderjähriger Sohn Harry eine Beziehung zu der Stenotypistin Vicky Springer hat. Genau an diesem Tag bekommt Vicky in der Poststelle des Hauses ihre Tochter Elsa. Eine alte Frau und ein zufällig vorbeikommender Zimmermann stehen ihr bei. Auch zwei Jahre später hat sich Harry noch immer nicht offen zu seiner Freundin und seinem Kind bekannt, denn Vicky ist als mittellose Nicht-Jüdin für die Familie Grünberg keine akzeptable Schwiegertochter. Vicky schlägt sich mühsam durch und wird von Harry ein wenig finanziell unterstützt. Genau an dem Tag, an dem Harry seinem Vater endlich die Wahrheit sagen will, stellt dieser ihn wegen Unregelmäßigkeiten in der Kasse zur Rede, die seinem Verkaufsleiter aufgefallen sind. Gleichzeitig spricht der Vater über die auf Grund der wirtschaftlichen Lage kritische Situation für das Kaufhaus und die finanzielle Situation der Familie, und Harry wird sein spätes Geständnis wieder nicht los, unter anderem auch, weil sein Vater zwar bereit ist, Jugendsünden zu verzeihen, aber - genau wie seine Frau - niemals eine unpassende Schwiegertocher akzeptieren würde.
In einer Nebenhandlung hat Vicky den unbekannten Zimmermann ausfindig gemacht, um zu erfahren, ob sie sich während der Geburt verraten hat, er also eventuell Gebrauch von seinem Wissen machen könnte. Bei einem Treffen erfährt sie, dass Wilhelm Glaser am gleichen Tag Vater eines Sohnes geworden ist. Lange Zeit später kommt der Kontakt zwischen den Familien zustande, und die kleine Elsa und Wilhelm und Martha Glasers Sohn Bernhard freunden sich an. Hier wird Vicky eine Ersatzfamilie für die finden, die sie wegen ihres Fehltritts verstoßen hat.
Sybil Volks siedelt ihe Geschichte in einer schwierigen Zeit an. Kurz nach der Eröffnung des Kaufhauses Jonass setzt der Börsenkrach von 1929 der positiven wirtschaftlichen Entwicklung ein Ende. Der Nationalsozialismus erstarkt, die SA ist aktiv, und Antisemitismus macht sich überall bemerkbar. Die Autorin zeichnet ein stimmiges Bild der Zeit, zu dem Ragtime und Shimmy genauso gehören wie ausladende Schnauzbärte bei den älteren Herren.
Die Leseprobe liest sich insgesamt gut, obwohl einige Passagen sprachlich eher merkwürdig sind ("vickyspringerlebendig" S. 16. "... aber bringen Sie doch diesen Schlendrian von einem Vater dazu, ihr einen ehrlichen Namen zu verschaffen." S. 23. Mit "Schlendrian" bezeichnet man eine langsame, fehlerhafte, wenig effektive Arbeitsweise, aber keine Person.)
Dennoch erwarte ich einen interessanten Roman über eine zurückliegende Epoche, die noch immer die wichtigsten Themen für die neueste Literatur liefert, wie sich auch an der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2012 an Ursula Krechel für ihren Roman "Landgericht" gerade wieder gezeigt hat.