Zwischen Abscheu und Faszination

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Zwischen Abscheu und Faszination bewegt sich die Bandbreite der Emotionen bei der Lektüre dieses Romans. Die Hauptfigur dieses Debütromans einer dänischen Krimiserie ist die Ich-Erzählerin Maria Krause. Sie ist Gerichtsmedizinerin und in ihrem Beruf ebenso engagiert und kompetent wie exzentrisch und gestört in ihrem Privatleben. Ihr ist durchaus bewusst, dass sie "eine Schraube locker hat".
Soziale Kontakte sind nicht ihre starke Seite, sie hat nur eine Freundin: ihre nigerianische Kollegin Nkem, der sie von Kopenhagen, wo die beiden zuvor am Rechtsmedizinischen Institut gearbeitet haben, nach Odense gefolgt ist. In ihrer fast schon steril (un)eingerichteten Wohnung haust sie allein mit ihrer Katze, das Wohnzimmer gleicht ihrer eigenen Einschätzung nach einem Totenzimmer. Maria bekämpft ihre Schlafprobleme mit Wein und Schlaftabletten und sie pflegt ein außergewöhnliches Sexualleben: seitdem sie vor 20 Jahren von einem attraktiven Mann vergewaltigt wurde und das genoss, bestellt sie in gewissen Abständen bei einer SM-Agentur einen "Vergewaltiger", der sie in einem Park überfallen soll. Auch zu ihrem neuen Chef, einem sehr von sich selbst eingenommenen, jedoch unattraktiven Schürzenjäger, hat sie ein zwiegespaltenes Verhältnis, sie verabscheut und begehrt ihn gleichzeitig. Für einen psychisch gesunden Leser ist es nicht einfach, sich in Marias Persönlichkeit hineinzuversetzen.
Die Gerichtsmedizinerin ist allerdings ein Waisenknabe im Vergleich zu dem Sadisten, der in Odense auf bestialische Weise junge Mädchen abschlachtet. In dessen kranke Psyche erhält der Leser durch sein Tagebuch einen wahrhaft abgründigen Einblick. Ausschnitte des Tagebuchs beschreiben in selbstgefälliger Manier die Fehlentwicklung eines intelligenten und völlig skrupellosen Jungen aus privilegierter, aber dysfunktionaler Familie. Die einander abwechselnden Kapitel, in denen die beiden Ich-Erzähler Maria und der Tagebuchschreiber auftreten, bewegen sich aufeinander zu, bis dem Leser die Zusammenhänge klarwerden. Dass man dem Täter überhaupt auf die Spur kommt, verdankt man nicht der Polizei, die in diesem Krimi eine untergeordnete Rolle spielt, sondern der Gerichtsmedizinerin Maria, die mit Hilfe der Chemikerin Nkem unermüdlich eigene Ermittlungen betreibt und dabei am Rande der Legalität entlang strauchelt. Das außergewöhnliche Engagement von Maria geht auch auf ihre Fantasievorstellung einer eigenen Tochter zurück. Maria hatte nach der (ersten) Vergewaltigung abgetrieben, in ihrer abnormen Fantasiewelt hat sie jedoch eine Tochter geboren, die sie heranwachsen sieht. Die Mordopfer sind im Alter ihrer imaginären Tochter...

"Totenzimmer" ist - vor allem in der zweiten Hälfte - ungemein spannend und bewirkt durch die extremen Charaktere eine große Faszination, andererseits ist das Buch jedoch auch Abscheu erregend, da es neben der in Thrillern schon üblichen Brutalität der Mordmethoden Tabuthemen wie Inzest anschneidet und auch Tierquälerei präsentiert. Diese Themen sind sicher nicht für jeden Krimifan leicht verdaulich.

Sehr sensible Leser, die ruhigere Krimis bevorzugen, sollten sich gut überlegen, ob sie dieses Buch lesen möchten. Für Liebhaber härterer Thriller kann man eine Leseempfehlung aussprechen, da "Totenzimmer" sowohl sehr spannend als auch mit der ungewöhnlichen Besetzung der Hauptfigur originell ist.
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