Im Nebel der Sprache und der Erinnerung

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kirakolumna Avatar

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Der Einstieg in Trag das Feuer weiter hat mich sofort gepackt, vor allem weil er die Zeit der Pandemie so präzise einfängt, ohne sie groß benennen zu müssen. Schon nach wenigen Seiten ist klar: Die Protagonistin ist an Corona erkrankt und kämpft seitdem mit einem massiven Brainfog. Für irgendwen wäre das schon schlimm genug, aber für eine Schriftstellerin ist es potentiell existenzbedrohend. Sie verliert Wörter, Routinen, sogar ihren eigenen Türcode. Handschriftliche Buchstaben werden zu Fremdkörpern. Und mit jedem kognitiven Aussetzer zieht sie sich weiter zurück, bis soziale Situationen schlicht nicht mehr möglich sind.
Besonders ernüchternd (und leider sehr realistisch) ist die medizinische Odyssee: ÄrztInnen sprechen von Depressionen und suchen nach psychosomatischen Erklärungen, aber niemand erkennt, dass hier eine ganz typische post-virale Erschöpfungs- und Funktionsstörung abläuft. Erst spät stellt ein Arzt den Zusammenhang zwischen Corona und ihren Symptomen her. Ein Moment, der sich weniger wie eine Lösung anfühlt als wie ein vorsichtiger Lichtschimmer.
Spannend ist dann der abrupte Perspektivwechsel zum Vater. Der Text öffnet sich zeitlich und erzählerisch und geht von der individuellen Krankheitsgeschichte in eine größere Familienerzählung über (genau so, wie man es aus den ersten beiden Teilen der Trilogie kennt). Ich habe diese bereits gelesen und sehr gemocht, eigentlich alles, was die Autorin bisher geschrieben hat. Umso schöner ist der Wiedererkennungswert der Sprache: ruhig, präzise, unaufgeregt und gleichzeitig emotional sehr dicht.
Gleichzeitig macht die Leseprobe den Eindruck, dass sich Trag das Feuer weiter auch unabhängig lesen lässt. Man spürt zwar die Tiefe der Vorgeschichte, wird aber nicht ausgeschlossen, sondern behutsam in das familiäre Geflecht hineingezogen. Für mich ist dieser Auftakt eine Mischung aus Krankheitsprotokoll, Familiengeschichte und poetischer Selbstverortung. Wie immer bei Leila Slimani eher leise, klug und sehr gegenwärtig.