Ein Sommerstück

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Cape Cod. Schöne Gegend. Die Wohlhabenden wohnen hier, die beinahe Wohlhabenden machen hier Ferien. Sonne. Strand. Wind. Segelboote, Möwen, alte Villen, Künstler und Walbeobachtung. Das ist das Ambiente des Romans „Treibgut“. Dort lebt auch laut Klappentext die Autorin, weswegen die Atmosphäre der Insel völlig authentisch wirkt.
Ein alternder Professor für Meeresbiologie und seine Entourage. Obwohl der Professor Monologe über Wale liefert, und damit der Autorin Gelegenheit bietet, einige Informationen über diese großartigen Meeressäuger einfließen zu lassen, ist Adam Gardener nicht der Wissenschaftler, den man so erwartet, akkurat, rational, faktenorientiert. Denn Gardener leidet an einer bipolaren Störung und ist lustig selbstverliebt. Er hat seine Krankheit einigermaßen im Griff, aber eben nur einigermaßen, es gibt noch genug weiße Flächen in seinem Leben, denen er eben nicht Herr geworden ist und das ist seine Familie. Freilich ist er außerstande, seine Mankos zu erfassen. Zum Leidwesen seiner Kinder. Zur Erheiterung der Leser.
Selbstbild und Fremdwahrnehmung des Meeresbiologen klaffen also erheblich auseinander. Adam Gardener ist selbstbezogen, hält sich für ein Genie und denkt, er sei ein wunderbarer Vater gewesen. Womanizer. Mehrmals verheiratet. Auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft. In Wirklichkeit aussortiert, da er mit der modernen Zeit nicht mithalten kann und, mit Verlaub, einfach zu alt ist. Er wird 70 Jahre alt und aus diesem Anlass soll seine Schwiegertochter ein großes Fest organisieren, das natürlich ein Fiasko wird. Adam hat immer dann geistige Höhenflüge, wenn er seine Medikamente absetzt. Und er findet immer wieder eine Rechtfertigung dafür, dies zu tun. Mit Medikamentation hat er Depressionen und sein Denken und Fühlen ist verlangsamt. Ohne Medis aber, fängt die Welt an zu schwingen. Nur dumm, dass er dann nicht mehr schlafen kann und ellenlange sinnentleerte Monologe hält, so dass alle schnell weglaufen.
Bipolarität ist eine schwere Persönlichkeitsstörung, die den Betroffenen das Leben zur Hölle machen kann. Es ist ein tragisches Krankheitsbild. Diese Tragik kommt in dem Roman zu kurz. Man amüsiert sich eher als dass man mitleidet. Für die Tragik brechen sich alte Familiengeheimnisse allmählich Bahn. Die erwachsenen Kinder Ken und Abby haben ihre Jugend am Meer sehr unterschiedlich verarbeitet. Der frühe Verlust der Mutter hat beiden einen Knacks versetzt. Ken versucht mithilfe seines Psychiaters seine Jugend aufzuarbeiten. Abby bannt in eigenartigen großflächigen Bildern ihre Erinnerungen auf die Leinwand, was Ken einen Höllenschrecken einjagt.

Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Die Protagonisten auf Cap Cod setzt die Autorin hübsch in Szene. Mit einem Menschen von außen, Steph, bekommt die Leserschaft nicht nur den inneren Blick der Familie durch den Sohn Ken, den Vater Adam und Tochter Abby und durch Jenny (Kens Frau), sondern auch einen Blick von außen geliefert.
Die Familiengeheimnisse sind, was sie immer sind. Ich will sie nicht verraten, aber es gibt nicht so viel Auswahl. Sie sind immer schmutzig und immer schmerzlich.

Die Autorin hatte mich lange Zeit am Bändel, ihre Figuren hatten interessante Berufe und interessante Probleme. Kens widerwillige psychiatrische Sitzungen mit seinem Psychiater sind wirklich erheiternd, sein Charakter widerspenstig. Abby, ist unsere Hero, strahlend reine Weste, eine gläserne Villa in den Dünen und Frida, the Hund machen uns Spaß. Adam mit seinen selbstverliebten Gedanken, fern jeder Realität sowieso. Lebendige Dialoge. Aber nach zwei Dritteln verliere ich das Interesse. Warum ist das so?
Erstens wegen der Geheimnisse. Zu durchschaubar und nachdem sie nun einmal an den Tag getreten sind, gibt es keine Interaktion mehr unter den Figuren. Die Interaktion ist überhaupt der schwächste Punkt des Romans. Auch schon vor der Aufdeckung. Zweitens wegen der Geheimnisse. Schlimme Familiengeheimisse sind immer ein Schwachpunkt. Schwierig, Klischees dabei zu vermeiden. Falls ihr unter 35 seid, versäumt es nicht, eure Eltern zu fragen, ob ihr irgendwo geheime Geschwister habt, ob sie (oder auch Tanten, Onkel und Großväter) Nazis gewesen sind oder Kommunisten und ob sich auf dem Dachboden ein Koffer mit kompromittierenden Briefen befindet oder mit Falschgeld. Und dann gibt es noch sexuelle Geheimnisse. Also, wie gesagt, die Auswahl ist eigentlich gar nicht so groß. Aber das nur am Rande. Ein weiterer Schwachpunkt ist der Transport von Gefühlen. Seid ihr über 35 lohnt sich die Aufdeckung von Familiengeheimnissen meines Erachtens nicht mehr, nehmt alles hin, wie es eben ist. Es sei denn, ihr bekommt von irgendwo her eine Million vererbt oder ein Cottage in Südengland. Aber, wie gesagt, das nur am Rande. Das mit dem Cottage, sorry, tut mir wirklich leid, ist sehr unwahrscheinlich.
„Treibgut“ macht Spaß, es ist ein Roman, der einen vorwärtsstrebenden Plot hat, es ist immer etwas los, obwohl es auch erhellende Rückblenden gibt. Aber es fällt der Autorin schwer, die Gemütslage der Protagonisten anders darzustellen als durch einige Äußerlichkeiten, Alkohol, Distanzierung, Selbstgespräche, Hund. Und dann hätten wir noch die Natur. Obwohl die Naturpassagen wirklich schön sind, treten sie kaum in Bezug zu den Protagonisten.

Fazit: Stilsicher und ziemlich amüsant, bis die Familiengeheimnisse zu sehr Raum greifen und dann doch nicht wirklich besprochen werden.

Kategorie: Sommerroman. Gute Unterhaltung.
Verlag: Kindler, 2024