Die Seele dieses Hauses ist menschlich

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reenchenz Avatar

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Wow! Als Vielleserin Anfang Vierzig denke ich ja manchmal, ich hätte schon fast alles gesehen und gelesen. Umso schöner, wenn mich ein Buch durch etwas Neues richtig überrascht.
In „Treppe aus Papier“ erfahren wir die Geschichten dreier Familien, die in verschiedenen Jahrzehnten in ein und demselben Haus in einer deutschen Stadt wohnen und leben.
Da ist Irma, die eine eher lieblose Kindheit in den 30er und 40ern des 20. Jahrhunderts hier verlebt, mit Sehnsucht auf das liebevolle Familienleben der jüdischen Nachbarin, der kleinen Ruth, blickt und später wieder in das Haus zurückkehrt.
Und da ist Nele, die in unserer Gegenwart mit der Vorbereitung für eine Geschichtsklausur kämpft und beginnt, sich mit der Vergangenheit Ihrer Familie zu beschäftigen und zarte freundschaftliche Bande zur alten Dame aus dem unteren Stock knüpft.
Das Thema der Geschichte ist viel beschrieben: Wie verhielten sich verschiedene Personen der Handlung in der NS-Zeit? So klar, so bekannt. Doch der besondere Twist ist die Perspektive.
Erzähler dieser Ereignisse ist das Haus selbst. Schon die Vorstellung in einem über drei Seiten langen Satz ist ein Paukenschlag und lässt erkennen: hier haben wir einen Erzähler mit Emotionen, Gedanken und Gefühlen, die jedem Menschen bekannt sind. Es will sich neutral geben, ist es aber nicht. Es will beeinflussen, ist aber zum Zusehen verdammt. Es freut sich, fiebert mit, bemitleidet, bedauert, betrauert und verurteilt.
Besonders ist dabei auch, dass das Haus alle Geschichten nicht chronologisch, sondern zeitgleich erlebt. Das führt zu außergewöhnlichen Szenen in denen die kleine Ruth und die junge Nele, obwohl durch Jahrzehnte getrennt, gemeinsam am Tisch sitzen und Mathematik lernen. Das Haus beneidet die Menschen um ihre Fähigkeit, das Vergehen der Zeit chronologisch zu erleben. Die Lektüre dieses Hausberichtes ist spannend, emotional mitreißend und berührend.
Ich bin wirklich „ganz aus dem Häuschen“ über dieses besondere Buch. Henrik Szántó beweist: ein Haus hat eine Seele.
Sehr lesenswert!