Großartig originell

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marieon Avatar

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Bei Familie Bittner gibt es Pizza. Thomas erwartet den Fahrradcourier an der Wohnungstür der dritten Etage. Er gibt dem Mann Trinkgeld, weil er nicht will, dass es heißt, er wäre knausrig. Er stellt die Kartons auf den Küchentisch und sofort entsteht eine Choreografie aus Nele, die den Tisch deckt und Martina, die einen Dip zusammenrührt. Nele schaut auf ihr Display, Laura antwortet nicht. Martina sieht zu Nele, die das Handy verschwinden lässt. Wie es in der Schule war, fragt Thomas. „Gut“. Nele isst schneller. Die Hormone machen aus Neles Gefühlen eine Achterbahn. Es geht so schnell auf- und abwärts, dass selbst Nele dem Chaos in ihr hilflos zuschaut.

Irma Thon kocht jeden Mittwoch Zwiebelsuppe, neunzig ist sie jetzt und vor vielen Jahren in die Wohnung ihrer Eltern zurückgekehrt. Als sich die Schreihälse aus der Zweiten beschweren, kocht Irma jeden Tag Zwiebelsuppe, eine Woche lang. Jeder Hausbewohner bekommt eine Kostprobe aus dem guten alten Geschirr, dann ist Ruhe. Jetzt steht sie an den Briefkästen. Eine Hand auf dem Stock, mit der anderen versucht sie den Schlüssel ins Schloss zu zittern. Nele kommt mit Balu vom Gassigehen herein, grüßt freundlich, ortet die Situation und fragt, ob sie helfen kann. Sie kann. Im Kasten ist zu Irmas Zufriedenheit nichts.

Das Haus erinnert sich, dass im Vergangenen hier an dieser Stelle Alwin Sternheim mit seiner Frau Golda und der kleinen Ruth gestanden hat, umringt von Männern der Gestapo. Damals hatte die kleine Irma eine ganz eigene Rolle in dem Drama gespielt, denn ihr Vater hatte die Aufgabe des Blockwarts übernommen und an enormer Wichtigkeit zugelegt. Das Haus erinnert sich an vieles. Es hat die Energie all der Bewohner der letzten hundert Jahre gespeichert und atmet sie nun aus.

Fazit: Henrik Szanto hat ein so originelles Debüt geschrieben, wie ich es selten gelesen habe. Schon auf den ersten zehn Seiten passiert erstaunlich viel. Seine Ausdrucksweise ist eine Wonne, die mir über den Rücken streichelt. Der Autor hat die Gabe, unterschiedlichste Menschen aus Gegenwart und Vergangenheit, auf der Treppe, aneinander vorbeiziehen zu lassen. Im Grunde beschwört er die Vergangenheit herauf, damit wir uns erinnern und das macht er gnadenlos gut. Er lässt das alte Gemäuer voller Mitgefühl, aber auch ohne zu beschönigen, in den alten Zeiten schwelgen. So lerne ich jede*n Bewohner*in kennen, die je dort gelebt hat. Zugleich gelingt dem Autor der Spagat, Parallelen zwischen unserer Nazivergangenheit und dem heutigen Aufblühen alter Ideale zu zeigen. Mühelos lässt er die alte Irma über die misslungene Entnazifizierung sprechen und Nele fragen, warum ihr Opa auf einem Familienfoto ein Hakenkreuz trägt. Und damit trifft er einen wichtigen Kern unseres Landes, nämlich den, dass wir uns nie wirklich mit unserer Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Scham und Schuld sind nicht die Erkenntnisse, die verhindern können, dass alte Ideologien entstehen. Dieses Buch ist definitiv eine der besten Aufarbeitungen unserer Nazivergangenheit, die mich je erreicht hat. Diese Geschichte hätte sich auch gut auf der Long- oder gar Shortlist des deutschen Buchpreises dieses Jahres gemacht. Es hat es verdient. Unbedingt lesen!