Roman über Erinnerungskultur mit innovativer Erzählperspektive
Treppe aus Papier von Henrik Szántó hat mich überrascht. Mit einer außergewöhnlichen Erzählperspektive, zwei sehr gut ausgearbeiteten Protagonistinnen und einem sehr nuancierten Blick auf Schuld und Verantwortung.
Die sechzehnjährige Nele, die sich mit dem Geschichtsunterricht rund um den Nationalsozialismus und die Gründung der BRD in der Schule schwer tut, gerät mit ihrer neunzigjährigen Nachbarin ins Gespräch und im Laufe des Buches erfährt sie von ihr aus erster Hand viel über die Vergangenheit. Der abstrakte Schulstoff wird so für sie greifbar und motiviert sie, sich selbst weiter zu informieren, sowohl allgemein als auch über ihre Familiengeschichte. Sie erkennt, wie wichtig es ist, (sich) auch unangenehme(n) Fragen zu stellen und verzweifelt an dem Verhalten der Mitmenschen, die sich dem Verweigern wollen.
Über weitere Erzählstränge erfahren wir von den unterschiedlichsten Hausbewohner:innen zu verschiedenen Zeiten und wie diese auf unterschiedliche Arten zu Opfern, Tätern, und Nutznießern einer Ideologie wurden. Dabei wird deutlich, dass die Hintergründe zwar oft erklären können, wie es zu einer Situation kommen konnte, diese aber nie eine Entschuldigung für das Verhalten darstellen. Es geht um Erinnerungskultur, um Schuldfragen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene und darum, dass es ohne ein Anerkennen dieser Schuld keine Möglichkeit gibt, die Vergangenheit aufzuarbeiten.
Der Roman hat mich zunächst aufgrund der außergewöhnlichen Erzählperspektive angesprochen. Wir bekommen die Geschichte nämlich vom Haus selbst erzählt, was ein richtig spannendes Konzept ist. Und das zieht sich allegorisch durch das ganze Buch und zeigt, dass Geschichte und Geschichten eben nicht nur flüchtig sind, sondern ihre Spuren hinterlassen und sich im Fundament einer Gesellschaft niederlassen, sich überlagern und wichtig für das Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind. Im Gegensatz zu den meisten anderen Büchern, bei denen wir uns zeitlich auf einer Ebene befinden, uns aber räumlich mit den Figuren fortbewegen, überlagern sich hier die Ereignisse aus hundert Jahren, während wir uns räumlich auf einen Ort konzentrieren und dadurch die deutsche Geschichte in einer Art Mikrokosmos wahrnehmen. Diese besondere Erzählperspektive wurde hier meiner Meinung nach richtig gut umgesetzt und macht für mich den Reiz des Werkes aus.
Was mich immer wieder aus der Geschichte gerissen hat, waren die Eltern von Nele. Schon am Anfang fand ich sie ziemlich nervig (der Vater kümmert sich nicht um seine stinkigen Sportsachen, und die Mutter erwartet dann, dass die Tochter das übernimmt?), aber als Nele dann beginnt, ihre Fragen zu stellen, kann ich mir die abweisende Reaktion der Eltern einfach nicht erklären. Klar, sie werden damit konfrontiert, sich nicht/zu wenig mit der potenziellen Nazi-Vergangenheit der eigenen Familie auseinandergesetzt zu haben, und niemand wird gerne kritisiert, aber die Heftigkeit, mit der sie Neles Nachforschen als unangemessen hinstellen, fand ich nicht nachvollziehbar.
Abgesehen davon hat mir das Buch aber richtig gut gefallen und die Thematik rund um Erinnerungskultur, Schuld und Scham wurde durch die Erzählung auf innovative Art transportiert. Der Roman regt zum Nachdenken an, über die eigene Familiengeschichte, aber auch über Hintergründe, die unsere Gesellschaft geformt haben und vielleicht die ein oder andere aktuelle Entwicklung erklären können.
4,5/5
Die sechzehnjährige Nele, die sich mit dem Geschichtsunterricht rund um den Nationalsozialismus und die Gründung der BRD in der Schule schwer tut, gerät mit ihrer neunzigjährigen Nachbarin ins Gespräch und im Laufe des Buches erfährt sie von ihr aus erster Hand viel über die Vergangenheit. Der abstrakte Schulstoff wird so für sie greifbar und motiviert sie, sich selbst weiter zu informieren, sowohl allgemein als auch über ihre Familiengeschichte. Sie erkennt, wie wichtig es ist, (sich) auch unangenehme(n) Fragen zu stellen und verzweifelt an dem Verhalten der Mitmenschen, die sich dem Verweigern wollen.
Über weitere Erzählstränge erfahren wir von den unterschiedlichsten Hausbewohner:innen zu verschiedenen Zeiten und wie diese auf unterschiedliche Arten zu Opfern, Tätern, und Nutznießern einer Ideologie wurden. Dabei wird deutlich, dass die Hintergründe zwar oft erklären können, wie es zu einer Situation kommen konnte, diese aber nie eine Entschuldigung für das Verhalten darstellen. Es geht um Erinnerungskultur, um Schuldfragen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene und darum, dass es ohne ein Anerkennen dieser Schuld keine Möglichkeit gibt, die Vergangenheit aufzuarbeiten.
Der Roman hat mich zunächst aufgrund der außergewöhnlichen Erzählperspektive angesprochen. Wir bekommen die Geschichte nämlich vom Haus selbst erzählt, was ein richtig spannendes Konzept ist. Und das zieht sich allegorisch durch das ganze Buch und zeigt, dass Geschichte und Geschichten eben nicht nur flüchtig sind, sondern ihre Spuren hinterlassen und sich im Fundament einer Gesellschaft niederlassen, sich überlagern und wichtig für das Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind. Im Gegensatz zu den meisten anderen Büchern, bei denen wir uns zeitlich auf einer Ebene befinden, uns aber räumlich mit den Figuren fortbewegen, überlagern sich hier die Ereignisse aus hundert Jahren, während wir uns räumlich auf einen Ort konzentrieren und dadurch die deutsche Geschichte in einer Art Mikrokosmos wahrnehmen. Diese besondere Erzählperspektive wurde hier meiner Meinung nach richtig gut umgesetzt und macht für mich den Reiz des Werkes aus.
Was mich immer wieder aus der Geschichte gerissen hat, waren die Eltern von Nele. Schon am Anfang fand ich sie ziemlich nervig (der Vater kümmert sich nicht um seine stinkigen Sportsachen, und die Mutter erwartet dann, dass die Tochter das übernimmt?), aber als Nele dann beginnt, ihre Fragen zu stellen, kann ich mir die abweisende Reaktion der Eltern einfach nicht erklären. Klar, sie werden damit konfrontiert, sich nicht/zu wenig mit der potenziellen Nazi-Vergangenheit der eigenen Familie auseinandergesetzt zu haben, und niemand wird gerne kritisiert, aber die Heftigkeit, mit der sie Neles Nachforschen als unangemessen hinstellen, fand ich nicht nachvollziehbar.
Abgesehen davon hat mir das Buch aber richtig gut gefallen und die Thematik rund um Erinnerungskultur, Schuld und Scham wurde durch die Erzählung auf innovative Art transportiert. Der Roman regt zum Nachdenken an, über die eigene Familiengeschichte, aber auch über Hintergründe, die unsere Gesellschaft geformt haben und vielleicht die ein oder andere aktuelle Entwicklung erklären können.
4,5/5