Ein leises und poetisches Buch

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leukam Avatar

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Es ist mitten im Winter des Jahres 1942, als der 12jährige Vincent in Vallorcine, einem Bergdorf im Schatten des Mont Blanc ankommt. Der Junge hat Asthma und die klare Bergluft wird seinen empfindlichen Bronchien guttun. Doch seine Krankheit ist nicht der einzige Grund, warum er mutterseelenallein in die französischen Alpen geschickt wurde. Sein Leben wäre in Gefahr, wenn er weiterhin in Paris bliebe. Dort ist er als Vadim in einem Arbeiterviertel aufgewachsen, mit einem russischen Vater und einer französischen Mutter. Sein Vater und seine Großeltern sind Juden. Und obwohl Vadim katholisch getauft wurde, muss er nun seine frühere Identität abstreifen und als Vincent ein neues Leben führen.
Die Familie, die ihn aufnimmt, behandelt ihn wie einen Sohn. Und auch die Dorfbewohner und der Pfarrer heißen ihn willkommen.
Aber für das Stadtkind ist hier alles fremd und neu. Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er so viel Schnee, zum ersten Mal die Berge. Der Junge ist fasziniert von den majestätischen Gipfeln und dem vielen unterschiedlichen Weiß des Schnees. Langsam wird er vertraut mit dem Alltag der Dorfbewohner. Es ist ein einfaches und mühsames Leben, geprägt vom Rhythmus der Natur. Vincent hilft mit bei den Arbeiten auf dem Hof, ist dabei, als ein Kalb geboren wird. Und als das Frühjahr kommt, gibt es für die Kinder des Dorfes einiges zu tun. Vincent hat eine eifrige Freundin, die ihm alles zeigt und erklärt. Die 10jährige Moinette amüsiert sich über seine Unwissenheit . „ Noch nie Huflattich gesehen?“ „ Noch nie Kröteneier gegessen?“ „ Noch nie Vögel singen gehört!“ So nimmt sie ihn unentwegt auf den Arm, aber Vincent ist ein gelehriger Schüler. Er saugt alles Neue begierig auf, versucht einer von hier zu werden. .
So begleitet der Leser diesen liebenswerten Protagonisten durch drei Jahreszeiten. Und in drei große Kapitel ist der Roman auch eingeteilt. „ Weiß“ für Winter, „ grün „ für Frühling, „ gelb“ für Sommer. Jede Jahreszeit bringt für den Jungen neue Erfahrungen. Alles nimmt er intensiv wahr, Farben, Bilder, Töne, Gerüche. Vor allem die Farben spielen eine große Rolle, denn Vincent ist Synästhetiker. Jeder Buchstabe steht für ihn mit einer bestimmten Farbe in Verbindung. So wundert es nicht, dass der Junge seine Umgebung in selbstgemalten Bildern festhält.
Auch die Autorin spricht mit ihrem Roman die Sinne an. In unendlich vielen Variationen werden die Eindrücke des Jungen geschildert. Die vielen Weißtöne, das frische Grün des Frühlings, das Gold der Felder im Sommer, überhaupt die Schönheit der Natur -all das wird mit viel Poesie beschrieben. Wir sehen alles durch den offenen und unverfälschten Blick eines Kindes.
Vincents Entwicklung steht im Zentrum des Romans. Weg von zuhause muss er sich in eine fremde Umgebung integrieren. Die intensive Begegnung mit der Natur, die Gemeinschaft im Dorf, Freundschaften und eine erste zarte Liebe machen aus dem schüchternen Jungen aus der Stadt ein Kind der Berge. Das alles wird liebevoll und mit viel Empathie geschildert.
Der Krieg selbst steht im Hintergrund. Das isolierte Tal hält vieles fern. Die italienischen Besatzer im Dorf scheinen wenig bedrohlich. Doch die ziehen nach der Niederlage Italiens ab und auf sie werden die deutschen Soldaten folgen. Nun ist es auch hier nicht mehr sicher für Vincent.
„ Über allen Bergen“ ist ein leises Buch, das von seinen intensiven Beschreibungen lebt. Wer lyrische Landschaftsbetrachtungen liebt, kommt hier voll auf seine Kosten. Für mich hätten es etwas weniger sein dürfen. Auch war es mir zu viel Idylle im Dorf. Das Böse war etwas, das es nur außerhalb gab.
Trotzdem habe ich den Roman gerne gelesen.