Feministisches Märchen

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alasca Avatar

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Was würde geschehen, wenn plötzlich alle Frauen aufhören würden, sich zu kümmern?

Eine Antwort darauf versucht Fallwickl in ihrem neuen Roman. Es geht um die vielbeschworene weibliche Solidarität – vielbeschworen, weil sie nicht existiert. Diese Nichtexistenz, behauptet Fallwickl, ist ein männliches Narrativ. Fallwickl glaubt an eine natürliche Gemeinschaft aller Frauen: „So ist es in Wahrheit immer gewesen, und die Frauen wissen es.“ Tun sie das? Diese These ist das Kernstück des Romans - und hat mich nicht überzeugt.

Exemplarisch wird das Thema von drei Protagonisten verhandelt: Ruth, Krankenpflegekraft, Elin, Influencerin in Sachen Body und Mode, und Nuri, Fahrradkurier und Putzmann.

Nuri steht für die nichtpatriarchale Männlichkeit. Er ist freundlich und sanft und eher klein und zart. Und beruflich ein klassischer Loser. Er schämt sich dessen und sieht sich selbst nicht als vollwertiger Mann. So sympathisch diese Figur angelegt ist, so klischeehaft fand ich sie: Könnte nicht auch ein Zweimetermann mit Ingenieurskarriere feministische Überzeugungen haben? Dennoch: Fallwickl sind mit ihren Protagonisten sehr nahbare und facettenreiche Figuren gelungen, deren unterschiedliche Positionen gut nachvollziehbar sind.

Drei weitere Perspektiven bringen sich in kurzen Einschüben ein: Die Pistole, Die Gebärmutter und Die Berichterstattung. Die Pistole nehme ich Fallwickl übel; ein grobes Konstrukt, dessen Funktion mir viel zu durchschaubar war. Die beiden anderen Perspektiven nutzt die Autorin, um juristische (Die Gebärmutter) und mediale (Die Berichterstattung) Aspekte ins Spiel zu bringen.

Der Roman wartet mit vielen wichtigen Themen auf: Die Missstände in der Pflege. Die gehetzten Zusteller der Post. Die ausgebeuteten Fahrradkuriere. Die Wegwerfmenschen im illegalen Arbeitsmarkt. Die Individualisierung systemischer Probleme. Kümmern als Teil weiblicher Identität: „Wer sind wir, wenn wir uns nicht kümmern?“ Bodyshaming (und somit Geschlechterverrat) als Geschäftsmodell für viele Influencerinnen. Alles starke Motive, von denen jedes einzelne einen eigenen Roman tragen würde. Offenbar wollte Fallwickl nicht nur die weibliche Ausbeutung thematisieren, sondern das Thema gesamtgesellschaftlich angehen. Mit Blick auf ihr Kernmotiv eine Überfrachtung.

Fallwickls radikaler Feminismus ist durch den ganzen Roman spürbar; mich hat er ermüdet. Die Überzeugungen der Autorin teile ich zu 99 Prozent, aber die Art, wie sie uns diese näher bringen will, ist mir zu plakativ. Dem Roman fehlen die Grautöne, und es fehlen Konflikte. In seiner spontan entstandenen Frauengemeinschaft gibt es keine Verräterinnen, niemand schert aus. Diese allzu plötzliche, allumfassende Harmonie, die ohne jegliche Diskussion auskommt, ist aus meiner Sicht unglaubwürdig. Nicht nur das, Fallwickl verschenkt damit auch eine Menge psychologischer Suspense.

Auch stilistisch sehe ich den Roman eher kritisch – Fallwickl schreibt sehr emotional, manchmal hart an der Grenze zum Kitsch. Ich hätte mir weniger Pathos gewünscht, weniger Suggestion und weniger plumpes Man-Bashing im Nebensatz.

Warum tun wir Frauen uns untereinander so schwer mit der Solidarität? Die Gründe liegen auf der Hand. Diese Solidarität lässt sich jedoch nicht herbeibehaupten, so wünschenswert das auch wäre. Daher liest der Roman sich für mich auch weniger als Utopie denn als Märchen. Aber sind es Märchen, die wir hier und heute brauchen?

Mit „Und alle so still“ versucht Fallwickl, das „männliche Narrativ“ zu überschreiben. Aus meiner Sicht gelingt ihr das nicht.