Gutes Gedankenexperiment, dass mich nicht vollständig gekriegt hat

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luna80 Avatar

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Wir lernen drei Hauptpersonen kennen: Elin, um die 20, Influencerin, die auch die negativen Seiten dieses Jobs zu spüren bekommt. Nuri, auch um die 20, Mann mit Migrationshintergrund, kämpft sich ohne Schulabschluss rund um die Uhr durch schlechte bezahlte Jobs. Ruth, Mitte 50, ist Krankenpflegerin in einem Krankenhaus und durch den Fachkräftemangel arbeitet auch sie gefühlt rund um die Uhr und kommt sowohl mental als auch körperlich an ihre Grenzen.

Wie auch schon im letzten Buch lehnen sich im neuen Buch von Mareike Fallwickl lehnen die Frauen gegen die Männer-Welt auf. Diesmal geht dies jedoch gewaltfrei von Statten, zumindest von Seiten der Frauen. Inhaltlich geht es um Care-Arbeit und um den Pflegeberuf. Im Buch geht Fallwickl diesmal so weit, dass Frauen nicht mehr mitmachen, und sich und ihre Arbeit niederlegen, in stillem Protest. Da liegen sie nun, tun nichts mehr und bald eskaliert die Situation.

Fallwickl konstruiert, wie sie selbst in einem Live-Talk gesagt hat, ein Gedankenkonstrukt, in dem sie aufzeigen will, wie es wäre, wenn Frauen sich verweigern, streiken und untereinander nur mehr solidarisch und verständnisvoll wären. Und das ohne Sorgearbeit das System zusammenbricht.
Die Idee finde ich unheimlich spannend, auch wenn sie mir persönlich (nach Beendigung des Buches) zu kurz gegriffen ist, denn es gibt zig andere Dinge, die uns ALLE täglich betreffen, und wenn die nicht mehr gemacht werden, bricht ein System auch auseinander. Mit ist vollkommen klar, dass diese Arbeit, die wir als Frauen unablässig leisten, mehr gesehen, mehr honoriert (auch in monetärer Hinsicht) werden muss. Doch ausgehend von dem Gedankenexperiment schaudert es mich einfach. Und das möchte ich kurz erklären.

Vielleicht bin ich nicht die komplett richtige Zielfrau für diese Geschichte, denn vieles was täglich beklagt wird ist nicht zu 100% meine Lebensrealität (meine Care-Arbeit bspw. findet bei zwei älteren Menschen statt) und auch die von Menschen in meinem Umfeld, die Care-Arbeit leisten oder in der Pflege tätig sind. Und ich möchte auch gar nicht bezweifeln, dass es diese Erschöpfung gibt, denn im Buch von Franziska Schutzbach wird diese ausführlich und nachvollziehbar beschrieben.

Was mich so beschäftigt nach der Lektüre ist, dass ich dieses Buch nicht als vereinend empfinde, im Gegenteil. Mir mutet es an vielen Stellen wie eine Utopie an, deren Gegner nur Männer sind und das ist nicht die ganze Wahrheit (gibt da noch Politik, etc. und so). Es wird außer Acht gelassen, dass es sehr wohl auch Frauen gibt, die auf diese gewünschte Solidarität einen Dreck geben. Diese Stereotypisierung im Buch ist vielleicht gewollt, aber mir ist sie auch too much. Nuri ist plötzlich DER Mann, der Frauen komplett versteht. Elin, deren Einkommen auf dem Spiel mit ihrem Körper beruht, hat plötzlich vollstes Verständnis für das Thema Care-Arbeit, hatte aber selbst noch nie Berührungspunkte damit und macht innerhalb weniger Tage eine komplette Drehung ihrer Persönlichkeit. Ruth war mich für der einzig greifbare Charakter, deren Tun ich nachvollziehen konnte, die ein Opfer des Systems ist. Viele Dinge im Buch sind auch einfach nicht erklärt, sie geschehen auf einmal ohne Erläuterung.

Was ich cool gefunden hätte für diese gute Idee, dass diese etwas differenzierter herausgeschält ist. Die prekäre Situation von vielen Frauen in der Gesellschaft wird thematisiert und öffnet den Raum für eine Diskussion, jedoch ohne vielleicht auch Lösungsansätze zu bieten. Dass es vor allem eines kulturellen Wandels bedarf, um traditionelle Geschlechterrollen zu überdenken und zu verändern, kommt eigentlich gar nicht vor.

„Und alle so still“ … es sollte provozierend sein und der Grundgedanke, den sie erklärt, ist sehr interessant. Der hat mich gekriegt, daher wollte ich das Buch lesen!

Mich persönlich jedoch hat die Message nicht zu 100% erreicht, denn sie fühlt sich nicht fertig gedacht an, spielt mir persönlich zu viel mit Stereotypen (Migration, ALLE Frauen sind erschöpft, ALLE Frauen legen sich nieder – in manchen Ländern legt sich sicher niemand nieder, weiße CIS-Frau, , Pflege, etc.), entfacht zwar eine Diskussion, jedoch mit dem Tenor darauf, dass alle Männer böse sind; plötzlich sind alle Frauen solidarisch (das sind sie nicht, das ist etwas, dass ich sehr oft im beruflichen Kontext erlebe und das wird es auch nicht, denn so sind Menschen nicht). Und mir fehlt auch ein wenig die Diversität, auch wenn wir Nuri im Plot haben. Als divers kommt dies jedoch nicht bei mir an.

Ich habe das letzte Buch sehr gefeiert und ich mag es sehr, dass Fallwickl den Finger in die Wunde drückt, um Dinge aufzuzeigen. Ich hätte mir in diesem Buch weniger von allem, und mehr von möglichen Lösungen gewunschen, denn eine weitere Verhärtung von Fronten wird uns nicht weiterbringen.

Der Schreibstil ist direkt, trocken, stellenweise etwas sperrig. Dennoch bin ich leider, außer mit Ruth, nicht warm geworden mit der Lektüre. Mir wirkte vieles zu gewollt, ohne Ziel und wo man eigentlich hinmöchte; nur Chaos und keine Auflösung …

Im Buddyread mit hat unsere Whats-App-Gruppe förmlich geglüht vor Diskussionen, möglichen Annahmen und Szenarien in unseren Köpfen. Bei dreiviertel des Buches hatte ich Angst in eine Leseflaute zu rutschen.

In meinem Gedankenexperiment wäre es jedoch genial gewesen, diese Idee auf zwei oder drei Bücher aufzuteilen, denn ich verstehe im Grundsatz, was Fallwickl möchte. So war mir persönliche die Lektüre diesmal zu gewollt negativ und anstrengend. Oder vielleicht habe ich die Lektüre in ihrem Umfang einfach nicht verstanden. Mag auch sein.