Leider nicht die Erwartungen erfüllt

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wortknistern Avatar

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“Und alle so still” ist wohl das Bookstagram-Buch der Stunde und war (nicht nur) für mich der heiß ersehnte Nachfolger von “Die Wut die bleibt”. Leider hat mich das Buch nicht mehr ganz so begeistern können, wie der Vorgänger.

Erstmal das positive: Ich finde es gut, dass Fallwickl als Autorin “dahin geht, wo es weh tut”, aktuelle feministische Themen aufgreift und so auch viele Diskussionen und Gedanken anstoßen kann. Außerdem hat mir besonders die Figur Ruth gefallen, eine Krankenschwester, die wir bei ihren langen Diensten begleiten - und die fand ich sehr hart zu lesen, aber auch sehr bewegend.

Das Buch hat es mir aber trotzdem nicht leicht gemacht, und das ging schon mit dem Anfang los: Die Sexsüchtige Influencer inklusive derb erzähler Sexszenen war leider so gat nicht mein Fall. Ich glaube, mein größtes Problem mit dem Roman war, dass alles sehr “in your face” und überladen erzählt ist und ich es lieber etwas subtiler zum selbst “erarbeiten” mag (ist aber vermutlich bei der breiten Masse, die das Buch ansprechen soll, anders).

Dass sich alle Frauen gemeinsam auf die Straße legen und so gegen ein System protestieren, dass massiv auf der Ausbeutung, den Verpflichtungsgefühlen und kostenloser Care-Arbeit ebendieser beruht, ist ein unglaublich kräftiges Bild. Die vollkommene Solidarität zwischen allen Frauen ist zwar eine schöne Utopie, lässt hier aber außer Acht, dass es eben auch genügend Frauen gibt, die voller Überzeugung das Patriarchat aufrecht erhalten (das ist aber vermutlich schwerer im Roman umzusetzen).

Vielleicht hat mich auch diese glatte Umsetzung der Solidarität unter Frauen gestört, weil eben in die andere Richtung die Erzählung deutlich unbequemer ist. Protagonist Nuri ist “der gute Mann” und somit die Identifikationsfigur. Der war aber so überladen erzählt - er ist nicht nur sehr feministisch, sondern hadert auch mit seiner Sexualität, hat einen Migrationshintergrund und lebt in prekärer Situation - dass es für mich leider nicht mehr so ganz glaubwürdig war. Ich hatte ehrlich gesagt das Gefühl, dass die Autorin dachte, sie braucht hier dringend noch einen “guten Mann” als Ausgleich, damit ihr keine Männerfeindlichkeit vorgeworfen wird.
Alle anderen Männer in der Erzählung sind nämlich ziemlich eklig. Dabei hätte es diese Extrembeispiele nicht gebraucht, denn eigentlich zeigt die Erzählung auch so schon, wie die „normalen Männer“ - also die, die nicht Frauen selbstverständlich erniedrigen, schlagen oder bei erster Gelegenheit zum Vergewaltiger werden - vom System profitieren.

++ACHTUNG, AB HIER MINIMALE SPOILER +++
Weder Elin noch ihre Mutter konnte ich so richtig greifen über das Buch. Die Auflösung, warum Alma Elin den Umgang mit Oma und Tante ihr Leben lang verwehrt hat, fand ich ziemlich schwach und unlogisch. Sie ist also so feministisch, dass sie ihre Tochter so vor Bildern der Unterdrückung beschützen will (what), erzieht ihre Tochter mit feministischer Literatur, will Künstlerinnen in ihrem Hotel Raum geben - checkt aber gleichzeitig nicht, dass ihr eigenes Hotel auf der Ausbeutung von Frauen (Reinigungskräfte, Zimmermädchen, Köchinnen) funktioniert? Nö, das kaufe ich nicht ab.

Zwei kleinere Kritikpunkte, über die ich noch nachdenke:
Elin, die sexsüchtige Influencerin, sucht im häufigen anonymen Sex mit Männern Bestätigung, erlebt dort sexuelle Gewalt und findet dann schließlich ihre Erfüllung im Sex mit einer Frau, das finde ich irgendwie - obwohl der Hinweis auf Orgasm Gap und Gewaltakte wie Stealthing von Männern ggü. Sexpartnerinnen natürlich berechtigt ist - nicht ganz unproblematisch. Genau so, dass Nuri, unser “guter Mann” (vermutlich) asexuell ist. Allerdings mag ich das als Hetero-Frau nicht final beurteilen, aber mich würden queere Perspektiven hierdrauf sehr interessieren.