Meine Erwartungen wurden sogar noch übertroffen

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madame—rivkele Avatar

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«Was denkst du denn, was das hier ist?», fragt Elin.
«Ein kollektiver Burn-out», Charlie lässt die Hand im Gehen durch das Gras am Wegrand streifen, «und wir haben alle gewusst, dass es dazu kommen wird. Wir sind direkt darauf zugesteuert.»

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ein Tropfen nur, der zu viel ist. Ein Tropfen, nach unzählig vielen Tropfen, und etwas geschieht. Aber was, wenn das Ereignis darin besteht, dass nichts passiert? Davon handelt Mareike Fallwickls neuer Roman Und alle so still. An einem Sonntag im Juni bringt ein Tropfen das Fass zum Überlaufen und bringt Frauen dazu, nichts zu tun. Sie legen sich auf den Boden, ohne Banner und Plakate, ohne Parolen, ohne Zufahrten oder Straßen zu blockieren. Sie legen sich auf den Boden und entziehen sich den Erwartungen, die in einer patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft an sie gestellt werden, leisten keine unter- oder unbezahlte Carearbeit mehr. Plötzlich erscheinen Krankenpflegerinnen nicht zu ihrer Schicht im Krankenhaus. Ärzt:innenpraxen bleiben geschlossen, weil die Ärzt:innenhelferinnen fehlen. In Hotels bleiben die Zimmer ungeputzt, die Wäsche ungewaschen. Kinder werden nicht früh morgens in überfüllten Straßenbahnen und Bussen in Krippen und Kindergärten gebracht. Wie reagiert die (männliche) Gesellschaft, wenn auf einmal ihr unsichtbares Fundament wegbricht? Wenn da keine Wut mehr ist, keine Forderungen, die ignoriert werden könnten? Wird sie sich ändern? Und auf wessen Kosten wird diese Verweigerung ausgetragen?

«Aber was ist mit ihr und den Menschen dort», fragt Ruth und merkt, wie rau ihre Stimme klingt, «wenn du weg bist, was ist mit ihnen?»
«Ja», antwortet Barbara und weicht Ruth nicht aus, «das ist der Punkt, was ist mit ihnen?»

Mareike Fallwickl erzählt diese dystopische Utopie (oder utopische Dystopie?) aus Sicht von der Influencerin Elin, der Krankenpflegerin Ruth und Nuri, Sohn einer Srilankerin und eines Österreichers, der aus einer Arbeiter:innenfamilie stammend, unter präkärsten Umständen lebt.

Und alle so still hat mich ab der ersten Seite in seinen Bann gezogen. Nicht nur einmal hatte ich Tränen in den Augen, mal vor Rührung, mal vor Wut, mal vor Mitgefühl. Doch Mareike Fallwickl ist es nicht nur gelungen, die Schieflage der Gesellschaft, in der wir leben, aufzuzeigen, sondern gleichzeitig auch, Hoffnung hervorzurufen, zumindest bei mir. Die Geschichte wird abwechselnd aus der Sicht der drei Protagon:istinnen erzählt, wodurch verschiedene Blickwinkel auf das Geschehen dargestellt werden können. Außerdem kommen die Gebärmutter, eine Pistole und die Berichtserstattung in kurzen Einschüben als eigenständige Entitäten zu Wort – auf stilistisch interessante Weise werden so Hintergrundfakten gegeben und die Erwartungshaltung der Leser:innen gelenkt.

Besonders schön, interessant und wichtig finde ich die Figur von Nuri, der als cis-Mann unter dem Patriarchat leidet und eine feministische Einstellung hat. Denn ohne die männliche Perspektive und die männliche Kritik kann das Patriarchat wohl niemals ein Ende finden. Ein einziger Minuspunkt ist für mich, dass nicht durchgehend gegendert wird. Vielleicht soll auf diese Weise die dramatische Ungleichheit zwischen Frauen und Männern deutlicher gemacht werden: In Pflegeberufen arbeiten statistisch gesehen mehr Frauen, während in den Chefetagen überproportional viele Männer zu finden sind. In den Krankenhäusern liegen jedoch nicht nur Patienten, sondern auch Patientinnen – davon abgesehen, dass es noch so viel dazwischen gibt, so viel mehr Personen sichtbarer gemacht werden, wenn man gendert.

Aber trotzdem: das Buch ist wichtig und schön und es sollte von so vielen Menschen wie möglich (und nötig) gelesen werden, damit sich hoffentlich etwas ändert.