Utopie oder Dystopie?

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»Die Frauen liegen da wie hingeworfen, ihre Körper scheinen keinem Muster zu folgen. Sie sehen aus wie etwas Zerschmettertes. Aber verletzt sind sie nicht« (S. 96).

In »Alle so still« geht es um Elin, Nuri und Ruth – drei völlig unterschiedliche Personen, die sich zu Beginn fremd sind, sich aber innerhalb einer Woche durch eine Ausnahmesituation schnell und intensiv kennenlernen. Elin ist Anfang 20, Influencerin und wird durch einen körperlichen Übergriff völlig aus der Bahn geworfen. Durch ihre Social Media Karriere wertet Elin sich auf und macht sich gleichzeitig zu einer Ware, die ständig Kommentare und Bewertungen Anderer aushalten muss. Nuri ist 19 Jahre alt, hat die Schule abgebrochen und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, um wenigstens von der Hand in den Mund leben zu können. Ein richtiges Zuhause und stabile Bezugspersonen hat er nicht, da seine Eltern nicht in der Lage sind, Geborgenheit und Liebe zu spenden. Ruth ist Mitte 50 und arbeitet als Pflegefachkraft in einem Spital. An ihrem Arbeitsplatz ist sie die gute Seele der Station, dadurch aber auch maximal überlastet. Sie springt ständig für andere ein, damit der Dienstplan abgedeckt wird, da Zuhause sowieso niemand auf sie wartet. Sobald Ruth das Krankenhaus verlässt, lebt sie zurückgezogen – vom Schicksal im Stich gelassen – ein einsames Leben. Innerhalb der Geschichte kommen alle drei Figuren an ihre Grenzen, hinterfragen sich, ihr Umfeld und das System, in dem sie sich aufhalten. Ihre Entwicklung ist dabei stark und es ist ein deutliches Empowerment spürbar. Der Handlungszeitraum des Buchs beträgt nur acht Tage, daher ist die Entwicklung von Elin, Nuri und Ruth extrem komprimiert, nachvollziehbar beschrieben, allerdings auf die Wirklichkeit bezogen eher unrealistisch.



Mareike Fallwickl schafft in »Alle so still« schöne Alltagsmomente für die Protagonist:innen, doch gleichzeitig kann ich mich dabei nicht entspannen. Die Momente sind bittersüß, da ich ständig auf der Hut bin und auf den großen Knall warte. Bisher konnte mich kein Fallwickl-Buch so richtig abholen, da mir die Situationen zu überspitzt dargestellt wurden. Bei »Alle so still« geht es mir nicht so, hier steige ich von Beginn an, bin gefesselt, vertieft in die Geschichte. Wie im Sog steige ich in eine Story ein, die mich am Ende wütend und traurig wieder ausspuckt – voller Mitgefühl für Elin, Nuri und Ruth.

»Die Mutter hatte gearbeitet für den Vater, dann haben die Eltern ihn [Nuri] gezeugt, er ist sich nicht sicher, ob es das ist, was die Mutter wollte. Dann hat der Vater aufgehört, sie zu bezahlen, obwohl sie immer noch dieselbe Arbeit machte« (S. 91).

Der Schreibstil lässt mich durch die Seiten fliegen. In kurzen Sätzen bringt Mareike Fallwickl Situationen und die Emotionen der Protagonist:innen auf den Punkt. In Gesprächen und Gedanken arbeitet die Autorin hochbrisante Themen ein, wie beispielsweise Mental Load, Misogynie oder Care-Arbeit – dabei kommt die Kritik am bestehenden System nicht zu kurz. Unabhängig von den Erzählungen über Elin, Nuri und Ruth liefert Mareike Fallwickl kurze Kapitel aus einer besondern Sicht: die Pistole, die Gebärmutter und die Berichterstattung melden sich abwechselnd zu Wort, bringen Fakten ein und äußern auch hier Systemkritik! »Alle so still« fordert mich emotional beim lesen, es werden viele Facetten des Lebens beschrieben, vor allem Ruths Erzählungen gehen mir nah, da ich mich in ihren Berufsalltag nur zu gut einfühlen kann.


Für mich ist dieser Gesellschaftsroman ein must-read, der mich komplett überzeugen und aus dem ich viel mitnehmen konnte. Angelehnt ist der Kern der Geschichte an Streik bzw. isländischen Frauenruhetag in den Siebzigern. In »Alle so still« beschreibt Mareike Fallwickl, je nach Lesart, eine Utopie und Dystopie gleichermaßen.


CN: Patriarchale Strukturen, Tod, Trauer, Ableismus, Homofeindlichkeit, sexuelle, physische und psychische Gewalt.