Du hättest überleben können

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jenvo82 Avatar

Von

„Du sollst wissen, dass unsere Familie es nicht überlebt hat. Sie ist zerbrochen. Du hattest Träume, die für uns alle zu groß waren, wir sind ihnen nicht gewachsen gewesen.“

Inhalt

Marceline und ihr Vater erleben die Schrecken des Holocaust aus nächster Nähe, sie wird in das Vernichtungslager Birkenau deportiert, ihr Vater kommt nach Auschwitz, nur wenige Kilometer voneinander entfernt, fristen sie, behandelt wie Tiere auf dem Weg zum Schlachthof, ihr Dasein. Jeden Tag sterben tausende Menschen in den Gaskammern, durch Heldenmut oder einfach in Reihen aufgestellt vor ihren selbstausgehobenen Gräbern und einen fast gnädig anmutenden Rückenschuss. Alle die heute nicht sterben, könnten morgen tot sein oder übermorgen – das Überleben scheint zunächst das einzige Ziel aber die Wahrscheinlichkeit auf ein gutes Ende sinkt mit jedem Tag in Gefangenschaft.

Marceline schafft es dennoch, sie kehrt irgendwann zurück nach Hause zu ihrer Mutter und den Geschwistern, dies hat ihr Vater ihr damals kurz vor der Trennung prophezeit, weil sie jung ist, wird sie es schaffen. Doch ihr Lebensweg und der der anderen Hinterbliebenen wird nie mehr so sein, wie erhofft, denn Marceline glaubt, es wäre besser gewesen, ihr Vater wäre an ihrer statt nach Hause gekommen. Im hohen Alter von 86 Jahren schreibt sie ihm diesen Brief, einen Abriss über ihre Gedankenwelt und markante Lebenspunkte, die er nie mit ihr teilen konnte und die sie dennoch erzählen möchte, damit er weiß, wie sehr sie ihn all die Jahre vermisst hat.

Meinung

Die Thematik der Judenverfolgung ist für mich immer eine ganz Besondere, nicht nur weil solche Erzählungen auch Jahrzehnte nach ihrem Geschehen tief beeindrucken können, sondern auch, weil diese Schrecken nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Immer wieder zieht es mich auf dieses literarische Feld, egal ob es sich dabei um einen autobiografischen Text oder eine fiktive, realitätsorientierte Geschichte handelt.

Gerade wenn eine Überlebende erzählt, beschleicht mich beim Lesen des Textes normalerweise eine große Betroffenheit. In diesem Brieftext ist das meines Erachtens nicht so gut gelungen, weil Marceline gerade die Zeit im Konzentrationslager weitestgehend ausblendet und sich stattdessen mit der eigenen Schuld auseinandersetzt. Sie versucht sich zu erklären, ihren Lebensweg irgendwie zu rechtfertigen und das Auseinanderbrechen der Familie zu schildern, die nichts nötiger gebraucht hätte, als eine starke Vaterfigur und nicht eine hilflose Jugendliche, die zwar überlebt hat, aber nie mehr so sein konnte, wie vor ihrer Internierung.

Der Schreibstil des Buches ist sehr gut, die einzelnen Sätze sind kurz, prägnant und von immenser Kraft, aber alles bleibt fragmentarisch, weil sich hier Vergangenheit und Gegenwart auf so engem Raum begegnen, dass der Leser immer nur kurz das persönliche Leid aufblitzen sieht. Diese Erzählung hätte gerne den doppelten oder dreifachen Umfang haben können und gerade die Zeit in Birkenau und die Verwandlung eines Mädchens angesichts der traumatischen Erlebnisse hätte einen größeren Stellenwert bekommen können.

Doch Marceline erzählt lieber Episoden aus ihrem Erwachsenenalter, als sie einen 30 Jahre älteren Mann geheiratet hat, der vielleicht mit ihrem Vater harmoniert hätte und der genau diese Funktion in ihrer Beziehung einnahm – ein verlässlicher, älterer Partner, der den verlorenen Menschen ein wenig ersetzen sollte. Emotional ist mir dieser Text leider nicht nahegekommen, ein sehr seltenes Ereignis bei dieser Art der Lektüre, die mich im Normalfall sehr mitnimmt und tief bewegt. Allerdings entscheidet jeder selbst, gerade bei einer Biografie, was er zum Ausdruck bringen möchte, deshalb möchte ich über den Inhalt und die für mich fehlenden Puzzleteile auch nicht urteilen, denn rein literarisch ist es ein gutes, lesenswertes Zeitdokument.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für diese kurze Liebeserklärung an den Vater, der eine so große Lücke im Leben seiner Tochter und der Familie hinterlassen hat, dass dieser Umstand in Anbetracht der menschenverachtenden Verhältnisse in den Lagern so schwer wiegt, wie nichts anderes. Marceline schreibt erstaunlich neutral und immer in Erinnerungen schwelgend, so dass die Realität zu einer Hintergrundmelodie verklingt, während das Vermissen des geliebten Menschen ganz im Zentrum des Textes steht. Und der Rückblick auf das eigene Leben steht genau unter diesem Stern – Marceline hat gelebt, weil ihr Vater es so wollte, nicht weil sie es tatsächlich konnte.