Erinnerungsfetzen

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
solie Avatar

Von

Man glaubt immer, man wisse bereits viel über den Zweiten Weltkrieg, über die Verfolgung der Juden und anderer vermeintlich "nicht arischer" Minderheiten. Man glaubt, man hat im Geschichtsunterricht, in Dokumentationen, Spielfilmen oder Berichten bereits alles oder zumindest sehr viel gehört. Doch schon nach den ersten Seiten von Marceline Loridan-Ivens "Und du bist nicht zurückgekommen" ist man sich bewusst, dass man nichts weiß. Und eines sei vorweg genommen: Man wird auch nach der Lektüre nichts wissen.

Marceline Loridan-Ivens gibt uns einen Einblick in ihre Erinnerungen. Es sind mehr Erinnerungsfetzen, die das Ausmaß der ganzen Katastrophe nur erahnen lassen. Blendet man für ein paar Sekunden aus, dass es sich hier um einen Augenzeugenbericht handelt, so ist die Erzählung der Autorin bereits grauenhaft. Doch sobald der Gedanke sich wieder Bahn bricht, der Gedanke, dass die kleine Marceline in diesen Zeilen eine echte und keine fiktive Marceline ist, die dies alles wirklich erlebt hat, so ist alles Gelesene unfassbar unbegreiflich. Das bildliche Vorstellungsvermögen führt schnell in die menschlichen Abgründe einer Zeit, die glücklicherweise hinter uns liegt. Man möchte sich nicht erinnern und zwingt sich beim Lesen doch, alles genau zu erfassen und zu überdenken. Besonders hängen bleibt die Tragödie nach der Tragödie: das Verleugnen der Geschehnisse innerhalb der eigenen Familie, der zwanghafte Drang zurück zur "Normalität", der scheinbar niemals erfüllt wird. Man wird sich bewusst: In den Konzentrations- und Vernichtungslagern wurden nicht nur Menschenleben genommen, Menschen ausgebeutet und erniedrigt, viele wurden auch gebrochen. Sie lebten weiter, aber es stellt sich schnell die Frage, wie man mit diesen Erinnerungen überhaupt leben kann.

"Und du bist nicht zurückgekommen" ist gut lesbar und flüssig geschrieben - und dennoch nichts, was man mal einfach so am Stück liest. Es lässt einen auch Tage nach dem Schließen nicht los und beschäftigt weiterhin. Gerade in Anbetracht der aktuellen Situation mit der in den Medien als "Flüchtlingskrise" betitelten Weltsituation, mit den Bildern brennender Flüchtlingsheime und hämischer Hetze im Netz und auf den Straßen möchte man sich ein Mikrofon schnappen und die gesamten 110 Seiten laut und deutlich vorlesen. Diese Erzählung, diese Erinnerungen sind Vergangenheit und bleiben doch immer aktuell - sollten immer aktuell bleiben.