Meisterwerk

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
pedi Avatar

Von

"Ich bin ein fröhlicher Mensch gewesen, weißt du, trotz allem, was uns widerfahren ist. Fröhlich auf unsere Art, aus Rache dafür, dass wir traurig waren und dennoch lachten. Die Leute mochten das an mir. Aber ich verändere mich. Es ist keine Bitterkeit, ich bin nicht bitter. Es ist, als wäre ich schon nicht mehr da. Ich höre Radio, die Nachrichten, ich weiß, was geschieht, und es macht mir oft Angst. Ich habe hier keinen Platz mehr."


Das Gefühl, keinen Platz mehr zu haben, kennt Marceline Loridan-Ivens aus ihrer Jugend.
1943, mit 15 Jahren, wurde sie zusammen mit ihrem Vater aus Frankreich deportiert. Sie nach Birkenau, er nach Auschwitz. Zwei Lager, die nur drei Kilometer trennten und zwischen denen doch ein unüberwindbarer Abgrund klaffte.

"Du wirst vielleicht zurückkommen, weil du jung bist, aber ich werde nicht zurückkommen."

Die Prophezeiung des Vaters wurde zur traurigen Wirklichkeit.
Eine Wirklichkeit, die Marceline ihr Leben lang nicht verdrängen konnte.

"Noch heute zucke ich zusammen, wenn ich Papa sagen höre., fünfundsiebzig Jahre danach, sogar, wenn es jemand ausspricht, den ich nicht kenne."
"Ich habe so wenig Zeit gehabt, mir einen Vorrat von die anzulegen."

Der nie verwundene Verlust des geliebten Vaters ist das Zentrum, um das das Buch kreist.
Zwar werden auch der Lageralltag und seine Grausamkeiten in schonungsloser Deutlichkeit geschildert, aber

"Es war notwendig, dass das Gedächtnis zerbrach, sonst hätte ich nicht leben können."

So gehen auch die Worte, die der Vater in einer kleinen eingeschmuggelten Nachricht an sie richtet, verloren. Ihr Leben lang versucht sie, sie wiederzuholen.

Besonders eindringlich schildert die Autorin, wie sie auch nach der Befreiung und der Rückkehr nach Hause - Mutter, Bruder und Schwester haben ebenfalsl überlebt, der Empfang durch die Mutter fiel aber erschreckend herzlos aus - ihren Platz im Leben nur sehr zögerlich findet.
So kann sie, wie viele ihrer Leidensgenossen zunächst nicht in weichen Betten schlafen, zittert auch Jahre danach noch in jeder Bahnhofshalle, meidet Duschen.

"Man spürt sein Leben lang, dass man zurückgekommen ist." und
"Ich widerstand ihren Aufforderungen zu Leben."

Hin und wieder hätte ich gerne mehr Informationen gehabt, z.B. wie Mutter und Bruder überlebt haben. Dafür ist in dem schmalen Buch kein Platz. Wir erfahren nur, dass die Familie zerbricht, dass sich sowohl der manisch-depressive Bruder als auch die Schwester mehr als dreißig Jahre danach das Leben nehmen.

"Nach dir war unsere Familie zu einem Ort geworden, wo man um Hilfe rief, aber niemand es je hörte."

Das Buch ist ein erschütternder Bericht aus einer dunklen Zeit. Aber auch ein Blick voller Angst in eine Zukunft und Gegenwart, in der sich, gerade in Frankreich wieder antisemitische Strömungen kundtun.
Vor allem aber ist es ein ungemein zärtliches Gedenken an den verlorenen Vater.

"Ich habe gelebt, da du wolltest, dass ich lebe. Aber gelebt, wie ich es dort gelebt habe, indem ich die Tage nehme, wie sie kommen, einen nach dem anderen. Trotz allem gab es schöne Tage. Dir zu schreibenhat mir gutgetan. Wenn ich mit dir spreche, tröste ich mich nicht. Ich mildere nur, was mich beklemmt. Gern würde ich vor der Geschichte der Welt fliehen und zu meiner Geschichte zurückkehren, zu der von Schloime und seinem lieben kleinen Mädchen."

Ein großes Werk nachgetragener Liebe und ein Zeugnis, das um so wertvoller ist, als es in Zukunft immer weniger davon noch geben wird.