Angst vor der eigenen Courage

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marapaya Avatar

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„Der Mann liebt das Lieben, die Frau liebt den Mann“ – so heißt es beim Soziologen Niklas Luhmann in seiner Schrift „Liebe als Passion“. Luhmanns Text über das relativ moderne Konstrukt „Liebe“ und insbesondere dieser Satz hat mich als junge Studentin sehr zum Nachdenken gebracht und er korrespondiert auf erstaunliche Weise mit dem ein oder anderen High School Film, in dem sich Junge und Mädchen ineinander verlieben, weil man ihr gesteckt hat, dass er auf sie steht oder umgekehrt. Im Falle von Imogen Crimps Roman „Unser wirkliches Leben“ wünscht sich die Opernstudentin Anna nichts sehnlicher, als dass die Affäre zum Banker Max in eine echte Beziehung mündet. Doch Anna und Max trennen nicht nur über 10 Lebensjahre, sondern auch ihre täglichen Welten, in denen es bis auf eine Jazzbar keine gemeinsamen Überschneidungen gibt. Anna ist aus der Provinz erst kürzlich nach London gezogen, um Operngesang an einer renommierten Schule zu studieren. Sie kommt aus einfachen Verhältnissen und muss sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Und London ist alles andere als billig. In Mitbewohnerin Laurie findet sie eine Freundin. Laurie, selbst chronisch knapp bei Kasse, geht das Leben doch wesentlich wagemutiger als Anna an und weiß immer, wo die nächste Party steigt. Anna fühlt sich in vielem unsicher, doch beim Singen ist sie ganz sie selbst und es scheint ihr leicht zu fallen, sich in ihre Opernrollen hineinzudenken. Als sie den unnahbaren, aber charmanten Max trifft und sich auf eine Liaison mit ihm einlässt, beginnen sich Annas Prioritäten nach und nach zu verschieben und sie erkennt sich bald selbst nicht wieder.
Ob Max das Lieben liebt, wird nicht ganz klar in Crimps Erzählung. Das liegt vor allem an der Erzählperspektive. Denn es ist Anna, die hier aus ihrer Sicht erzählt. Wir Leser müssen entscheiden, ob wir ihrer Sicht trauen oder noch weitere Perspektiven in Betracht gezogen werden sollten. Ob Anna Max liebt, scheint ebenfalls unsicher. In jedem Fall will sie von ihm geliebt werden, weil er das offensichtlich im Moment nicht geben kann oder will. Als außenstehender Leser macht es einen wahnsinnig, dass sich dieses talentierte, junge Mädchen so verunsichern und manipulieren lässt von einem Mann, der eigentlich selbst gerade unzufrieden mit sich und seinem Leben ist. Die Autorin bewegt sich mit ihrer Geschichte nah am Klischee vom Mann, der dem jungen Ding die Welt erklärt. Und doch trifft sie einen Nerv bei mir. Ich erkenne mich in Anna wieder, verstehe ihre Unsicherheiten und ihre Suche nach dem eigenen Weg. Max‘ zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein, seine vermeintliche Lebenserfahrung und sein Geld beeindrucken Anna. Dass er sich für sie interessiert und sie begehrt, schmeichelt ihr. Sie fühlt sich aufgewertet durch seine Aufmerksamkeit. Seine Ansichten zu ihrem Leben werden wichtig für sie, wichtiger als ihre eigenen Ansichten. Sie beginnt ihre Entscheidungen in Frage zu stellen, rechtfertigt ihr Handeln damit, dass er das auch so sieht. Sie verliert sich. Es wäre leicht, nun Max dafür zu verteufeln, doch mir scheint, so einfach will es sich die Autorin nicht machen. Immerhin platziert sie Anna in ein Umfeld, das die gesamte widersprüchliche Ambivalenz der (privilegierten) Mittzwanziger aufzeigt, ebenso wie die zweifelhaften Strukturen unserer Gesellschaft, in der Frauen nach wie vor weniger gelten als Männer. Ich lese auch Max als Opfer dieser Gesellschaft, wenngleich sich mein Mitleid für ihn in Grenzen hält.
Imogen Crimps Roman gibt mir ähnlich viel zum Nachdenken über mich und die Liebe, wie der Luhmannsche Satz über den Mann, der das Lieben liebt. Dabei bleibt die eine Frage bis heute für mich offen: Was in dem Konzept die Frau eigentlich davon hat, den Mann zu lieben?