Authentisch, berührend und fesselnd

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
romy_abroad Avatar

Von

Annas Kindheitstraum ist es, Opernsängerin zu werden. Seit sie denken kann liebt sie das Singen, und das Gefühl, andere mit ihrer Stimme zu verzaubern. Als sie schließlich aller Widrigkeiten zum Trotz ein Stipendium für ein renommiertes Londoner Konservatorium bekommt, ist sie im siebten Himmel. Sie kann sich nur ein winziges Zimmer leisten, der Weg zum Konservatorium ist lang, oft muss sie Mahlzeiten auslassen, weil sie sich einfach nicht leisten kann - doch Anna ist das alles egal, sie lebt für die Musik. Jede Arie, die sie singt, jede Note, die sie ihrer Kehle entlockt, bedeutet ihr so viel mehr als ein üppiges Mittagessen oder eine eigene Wohnung. Um irgendwie über die Runden zu kommen, singt sie hin und wieder in einer Jazzbar. Das ist unter ihren wohlhabenden Mitstudierenden zwar verpönt, und auch ihre Gesangslehrerin sieht so etwas nicht gerne, doch Anna braucht das Geld und genießt es einfach, auf der Bühne zu stehen. Bei einem ihrer Auftritte lernt sie einen etwas älteren Mann kennen - an sich nicht ungewöhnlich, es kommt häufiger vor, dass sie nach ihrem Set angesprochen wird. Doch dieser ist anders: Er stellt neugierige Fragen, fordert Anna heraus, hält sich selbst bedeckt. Und als der Abend endet, nimmt er Anna nicht mit zu sich nach Hause. Die beiden sehen sich wieder, beginnen eine Affäre. Max stellt von Anfang an klar, dass er gerade dabei ist, sich scheiden zu lassen; er kann Anna also nichts bieten, als die Zeit, die sie gemeinsam verbringen. Doch Anna ist wie verzaubert: Ihr Alltag am Konservatorium verblasst im Vergleich zu den funkelnden Nächten, die sie mit Max verbringt. Er lädt sie ein in teure Restaurants und Cocktail-Bars, seine Wohnung hoch über den Dächern der Stadt wird beinah Annas zweites Zuhause - aber eben nur beinah. Denn da ist immer auch eine gewisse Kälte, die Max umgibt, die Anna nie komplett durchdringen kann.

Obwohl die Grundidee des Buches (arme Studentin lässt sich auf reichen Banker ein) wenig komplex anmutet, gelingt es Imogen Crimp, eine Geschichte zu erzählen, in der es um so viel mehr geht. Wir lernen viel über Annas Liebe zu Musik, über ihre Bindung zu Max, aber auch darüber, woran die beiden zwischenmenschlich immer wieder scheitern. Die vielen Fallstricke, die in jeder Beziehung lauern: ein Altersunterschied, verschiedene Interessen, unterschiedliche Talente und Begabungen, eine enorme Einkommensdifferenz, persönliche Prioritäten, charakterliche Reife. In all diesen Punkten haben Anna und Max nicht viel gemeinsam, doch das nicht nur aufgrund ihres Altersunterschieds. Crimp schreibt auf eine sehr poetische Art und Weise, die gleichzeitig sehr direkt und sehr bildhaft sein kann. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, ohne mit dieser Direktheit ihre Leser zu sehr zu schocken. Durch die Sprache der Autorin wirkt alles, was Anna erlebt und fühlt, unglaublich bedeutungsvoll und auch die Leserinnen und Leser werden dazu eingeladen, eine neue Bedeutsamkeit und Romantik in ihrem eigenen Leben zu entdecken. Der starke Fokus und die singuläre Erzählperspektive machen Anna zum absoluten Mittelpunkt des Buches - dadurch wurde meine Neugier als Leserin, vor allem was Max angeht, zwar nicht immer befriedigt, aber im Gesamtkontext macht diese Ausrichtung durchaus Sinn. Ein Detail, das mir nicht immer zugesagt und manchmal meinen Lesefluss etwas gestört hat, ist die Einbindung der Dialoge in den Fließtext. Crimp verzichtet dabei auf Anführungszeichen. Teilweise wirkt dies kunstvoll, manchmal war es aber einfach schwierig, Gedanken von gesprochenen Sätzen zu unterscheiden, und diese den richtigen Personen zuzuordnen.

Alles in allem hat mir "Unser wirkliches Leben" sehr gut gefallen. Es ist eine authentische Erzählung über eine junge Frau, die mich sehr berührt und beeindruckt hat. Die Schilderung von Annas Alltag, angereichert mit ihrer inneren Gefühlswelt, hat dabei beinahe hypnotisch auf mich gewirkt.

S. 365: "Wenn er aus seiner Wohnung und hinein in die Welt tritt, fängt er an zu existieren. Wenn ich hinaustrete, höre ich damit auf."