Ein brillantes Debüt

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Die 24-jährige Anna ist Stipendiatin am Londoner Konservatorium für Operngesang. Ihr großer Lebenstraum ist es, einst eine angesehene Opernsängerin zu werden. Dafür ist sie auch bereit alle Herausforderungen und Hürden zu nehmen, auch wenn es manchmal äußerst demotivierend und entmütigend sein kann. Da sie von ihren Eltern keine finanzielle Unterstützung erwarten kann, muss sich Anna mit Jazzgesang in einer Bar Geld dazuverdienen, das kaum für die Miete eines kleinen Zimmers reicht, welches sie sich mit ihrer vier Jahre älteren Freundin Laurie teilt. Eines Abends lernt Anna in dem Lokal den vierzehn Jahre älteren Max kennen, der Banker ist. Seine unnahbare Art und die geheimnisvolle Aura, die ihn umgibt, ziehen Anna in ihren Bann und schon bald entwickelt sich eine obsessive Beziehung zwischen den beiden. Immer mehr entfernt sie sich von ihrem Karrieretraum, entfremdet sich von ihrem Umfeld und droht den Bezug zu sich selbst und ihren innersten Wünschen zu verlieren, während ihre Abhängigkeit von Max immer mehr zunimmt. Die Natur ihrer Beziehung bleibt für Anna dabei stets im Dunkeln, denn Max entzieht sich jeglicher Vertrautheit. Und so droht sie an ihrer inneren Zerissenheit zwischen Karriere und Liebe zu zerbrechen.

„Unser wirkliches Leben“, im Original „A Very Nice Girl“, ist kein Liebesroman im herkömmlichen Sinne. Es ist ein psychologischer Roman, ein Psychogramm, ja, auch ein Künstler- und Bildungsroman. Er ist durch einen analytischen und selbstreflexiven Schreibstil geprägt, der zugleich äußerst emotional ist und den Leser fast distanzlos am Erleben der Ich-Erzählerin teilnehmen lässt. Es ist ein modernes Literaturdebüt voller Virtuosität und Dynamik, das viele Fragen und Themen unserer Zeit aufgreift. In den Künstlerkreisen, in denen sich die Protagonistin bewegt, wird heftig über feministische Theorien diskutiert und was es bedeutet, heute eine Frau und Künstlerin zu sein. Dass die Autorin selbst Operngesang studiert hat, merkt man sofort – eine derartig tiefe Sachkenntnis tritt uns in den Textstellen entgegen, die sich mit dem Gesang im Allgemeinen und der Opernwelt im Speziellen auseinandersetzen. So interpretiert Imogen Crimp alte Opernstücke wie „Manon“ und „La Bohème“ neu für uns und übersetzt sie in die heutige Zeit. Sie lässt uns ganz nah an den Höhen und Tiefen eines Künstlerlebens teilhaben – die Ängste und Erniedrigungen, aber auch die Hochgefühle und die Anerkennung, die so nur in einer kreativen Tätigkeit, einem schöpferischem Beruf erfahren werden können „– und plötzlich fühlte ich mich glücklicher als jemals zuvor, denn ich wusste, dass dies die einzige Art war, wie ich leben wollte. Genau das, diese Art von Leben, bei der jeder Nerv in meinem Körper lebendig war. Die ständig anders und unvorhersehbar war. Und in dem Moment sagen zu können, das war ich.“ Und natürlich auch die Selbstüberschätzung, die Selbstüberhöhung, die mit einer solchen Tätigkeit einhergeht. Einer Tätigkeit, die von einem verlangt, dass man sein Inneres nach außen stülpt. Auf der anderen Seite haben wir das mit beiden Beinen fest im Boden Verankerte, „Realistische“, nichts Überhöhende und Beschönigende, das durch den nüchternen Max verkörpert wird, der als Banker die finanzielle Sicherheit darstellt. Der aber auch seine persönlichen Kämpfe durchlebt, mitunter Zweifel an seiner Tätigkeit hegt und persönliche Krisen duchlebt. Diese beiden Welten prallen aufeinander, die von der Autorin genauestens durchleuchtet werden. Zusammen mit ihr versucht die Leserin Max und seiner Undurchschaubarkeit auf den Grund zu gehen, unternimmt die Anstrengung, sich seiner Manipulation und Verführung zu entziehen. Die Leserin leidet zusammen mit Anna und kann ihre Gefühle und Beweggründe doch bis aufs Tiefste nachvollziehen. Imogen Crimp hat mit „Unser wirkliches Leben“ ein ebenso intensives wie aufwühlendes Leseerlebnis erschaffen. Ich habe das Buch regelrecht verschlungen. Ich hoffe, es wird noch viele weitere Bücher von ihr geben!