Psychologisch interessant und emotional bewegend

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
fever Avatar

Von

„Unser wirkliches Leben“ von Imogen Crimp ist nur auf den ersten Blick eine klassische Liebesgeschichte: junge, mittellose Sängerin mit großen Träumen trifft, älteren, gut betuchten Mann und sie beginnen eine Affäre. Trotz dieses eher klischeehaften Set-ups ist der Autorin hier jedoch ein etwas anderer Roman gelungen, einer, der seine Protagonistin nicht als Liebeskranke mit einem Mann als einzigem Lebensinhalt darstellt, sondern ihr komplettes Leben ausleuchtet und ihr somit echte Tiefe verleiht.

Anna ist vom Land nach London gezogen, um am Konservatorium Operngesang zu studieren. Sie hält sich mit Singen im Jazzclub über Wasser und lebt kontinuierlich am Existenzminimum, um ihren großen Traum von der Opernkarriere zu verwirklichen. Von der überbehütenden und kontrollierenden Mutter und dem schweigsamen Vater zu Hause kann sie sich nicht viel Unterstützung erhoffen, denn diesen Lebensweg halten sie für viel zu unsicher. Als sie eines Abends Max kennenlernt, fühlt sie sich sofort zu ihm hingezogen, obwohl er sie von Anfang an auf Abstand hält. Ihre Beziehung entwickelt sich nach und nach in eine ungesunde Richtung, und Anna droht den Bezug zu sich selbst und ihren eigenen Wünschen zu verlieren, entfremdet sich von ihrem Umfeld und macht sich mehr und mehr abhängig von Max. Was anfängt wie ein seichtes Liebesdrama, entwickelt sich bald zu einem ernsthaften Psychogramm einer unsicheren jungen Frau, der es an Halt im Leben mangelt.

Trotz dieser erfreulichen Tiefe wartet „Unser wirkliches Leben“ auch mit einer ganzen Reihe von Klischees auf, und zwar nicht nur im Bereich der Liebesgeschichte, sondern vor allem auch, wenn es um das Leben von Künstler*innen geht. Die Geschichte suhlt sich häufiger recht stark in der Idee der mittellosen Künste und des freien Lebens. Zudem ist das Erzähltempo extrem gemächlich, wovon die Charakterentwicklung zwar enorm profitiert, was aber insgesamt dafür sorgt, dass sich einige Längen ergeben. So mancher Dialog wiederholt sich dabei, und dieselben Themen werden immer und immer wieder angesprochen. Prinzipiell unterstützt diese Erzählweise das Porträt von Anna und ihrer Gefühlswelt, ihr Sich-im-Kreis-Drehen und Nicht-von-der-Stelle-Kommen, der Grat zwischen Raffinesse und Ermüdung ist jedoch schmal und wird hin und wieder überschritten.

Trotz dieser leichten Schwächen ist „Unser wirkliches Roman“ ein Buch, das berührt und nachdenklich macht, mit einer Protagonistin, die mir als Leserin wirklich und wahrhaftig nahe kommt. Eine lohnenswerte Lektüre!