Zerrissen zwischen zwei Welten

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Anna kommt aus biederen Verhältnissen und entzieht sich ihrer verunsichernden, vereinnahmenden Mutter, indem sie nach London zieht, um dort Operngesang zu studieren. Das Stipendium reicht allerdings nicht zum Leben und ihr Alltag ist geprägt von ständigen Geldsorgen und engen Wohnverhältnissen. Um finanziell über die Runden zu kommen, verdingt sie sich nebenbei als Jazzsängerin in einer Bar. Dort lernt sie den wesentlich älteren Max kennen, mit dem sie sich auf eine leidenschaftliche Affäre einlässt. Er steht für eine andere Welt, das „wirkliche Leben“: Er arbeitet in der „City“, ist etabliert, erfahren, führt ein angenehmes und finanziell entspanntes Leben.
Die Beziehung der beiden ist keine auf Augenhöhe: Max gibt wenig von sich preis, hält sie auf Abstand und bis zum Schluss teilt man als Leserin Annas Befürchtungen, er könne ihr gegenüber nicht ganz ehrlich sein, ein Doppelleben führen. Ganz aufgelöst wird das bis zum Ende nicht. Das Leben der beiden spielt sich weitgehend in seiner kleinen Wohnung in der City ab, wo Anna aber immer nur Gast zu sein scheint. Anna versucht verzweifelt, dem Menschen Max nahezukommen, scheitert aber immer wieder.
Unter dem Einfluss von Max zweifelt sie schließlich zunehmend daran, dass ihr Traum, Opernsängerin zu werden, für sie der richtige Weg ist. Die Welt des Operngesangs ist der andere Teil ihres Lebens. Es ist die Welt des Konservatoriums, die geprägt ist von Begeisterung und Träumen, aber auch von finanzieller Enge, Unsicherheit, Konkurrenzdruck und ständigen Selbsterniedrigungen, in der Hoffnung auf ein Engagement. Und von der Angst um die eigene Stimme, die man schonen muss, die versagen könnte. Die Stimme ist es schließlich, die Anna in eine tiefe Krise stürzen wird. Diese Krise muss Anna erst durchleben, um herauszufinden, was sie wirklich möchte.
Der kritische, teilweise ironische Blick von Imogen Crimp auf die Welt der darstellenden Künste macht die fehlende Wertschätzung für Künstler/innen deutlich, die letztlich dazu führt, dass so manches Talent daran verzweifelt. Gleichzeitig wird in dieser Geschichte auch deutlich, wie leicht ein verunsicherter Mensch wie Anna in eine Obsession hineingeraten kann: Je mehr Max sie auf Abstand hält, umso verzweifelter sucht sie seine Nähe. Sie passt sich an, möchte so sein, wie er sie haben möchte.
Insgesamt ein sehr lesenswertes Buch über die Welt des Kunstbetriebs und eine ungleiche Beziehung. Das Cover des Buches passt deshalb auch sehr gut zum Inhalt: Im Grunde möchte Anna immer nur gefallen, sei es auf der Bühne, beim Vorsingen oder gegenüber Max. Sie möchte geliebt werden und Anerkennung finden. Dabei wird sie zunehmend zu einem gesichtslosen Wesen, das erst nach einer tiefen Krise wieder an Profil gewinnen kann.