Buddenbrooks revisited

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Mahlkes höchst beeindruckender Roman „Unsereins“ ist der Roman einer Stadt zwischen 1890 und 1906. Er beschränkt sich nicht auf eine Familiengeschichte, die der großbürgerlichen jüdischen Familie Lindhorst, sondern leuchtet auch den Alltag der niederen Stände aus. Da sind z. B. das mit ihrem Schicksal unzufriedene Dienstmädchen Ida, der schrullige Ratsdiener Isenhagen, der schwule Lohndiener Helms und seine Frau. Oder man erfährt von einer Malerin, die es wirklich gegeben hat. Sie hieß Maria Schorer bzw. Maria Slavona. Und man lernt ihren Freund Vil Petersen kennen, der im wirklichen Leben als Kunstsammler berühmt geworden ist.

Der Roman beginnt und endet mit der Perspektive eines Filmzuschauers, sehr heutig. Die Leser blicken zusammen mit einem fallenden Regentropfen auf eine Stadt und ihre Bewohner, also zunächst aus einer Vogelperspektive, dann wird der Fokus auf einzelne Figuren gelegt. Man sieht das Weichbild der Stadt Lübeck, das vor mehr als hundert Jahren Thomas Mann für den Hintergrund seiner Familiengeschichte „Buddenbrooks“ verwendet hat. Er kommt auch selbst im Roman vor – als eingebildeter und hochnäsiger Schuljunge, der von einigen als „Pfau“ bezeichnet wird, und als gefeierter Schriftsteller, der für eine Lesung in seine Heimatstadt zurückkehrt, immer noch ein arroganter Schnösel, der es nicht lassen kann, andere herabzuwürdigen.

Aber Mann spielt nicht die Hauptrolle bei Mahlke, auch wenn immer wieder Figuren auftauchen, die die Leser aus den „Buddenbrooks“ kennen – kein Wunder, hatte sich doch Mann für seine Figuren ausgiebig bei Bewohnern seiner Heimatstadt bedient. Der Vater einer der Hauptfiguren heißt Keitel, bei Mann Hoffstede, in Wirklichkeit ist es der berühmte Dichter Emanuel Geibel, der Musikfreunden heute nur noch als Dichter des Liedes „Der Mai ist gekommen“ bekannt ist. Vermutlich könnte man – wie nach Erscheinen der Buddenbrooks in Lübeck geschehen – Schlüssellisten anfertigen, um herauszufinden, wer in Mahlkes Roman wer bei Thomas Mann oder in Wirklichkeit war. Mir hat es auch Spaß gemacht, das zu tun. Ironischerweise beschäftigen sich auch die Figuren in Mahlkes Roman damit, wie sie in Thomas Manns Roman dargestellt werden, für sie kein Vergnügen. Marie Lindhorst ereifert sich darüber, dass Mann sie „Puttfarken – Schmutzferkel“ genannt hat. „Es ist das Spiel der Saison. Bei jedem Dinner werden nach dem Dessert Papier und Stifte ausgeteilt. … Jeder für sich schreibt eine Liste, und beim Likör vergleichen alle und diskutieren.“
Aber den Roman als Kontrafaktur zu Thomas Manns Werk zu sehen, wäre zu kurz gegriffen. Er ist das Portrait mehrerer Generationen, insbesondere auch von Frauen, die versuchen, sich aus den Konventionen zu lösen, oft daran scheitern, es manchmal aber auch schaffen, ein eigenständiges Leben zu führen: Henriette hat mangels männlicher Erben, das Vermächtnis ihres Vaters antreten dürfen und ist als Schriftstellerin tätig (natürlich mit männlichem Pseudonym). „Sie ‚sprachen über ein Buch, den Skandal des letztes Jahres: die Heldin ein Mädchen das viel schaukelt, sich in den falschen Mann verliebt und tragisch stirbt. ‚Mich stört das Ende‘, hatte Henriette gesagt. … Wenn ihr wenigstens ein bisschen eigenes Leben vergönnt gewesen - ‘“ Sie bedauert hier wohl das Schicksal der Fontane-Figur Effi Briest.

Ein Roman voller Verweise auf die Wirklichkeit und die Literatur! Ein Roman, der die kleinen Dinge, in den Vordergrund rückt, die Schmerzen in den Händen des Dienstmädchens Ida, die es ihr fast unmöglich machen, tippen zu lernen, die Geräusche, die eine Tür macht, die man unbedingt lautlos öffnen will, den Geruch von Makassaröl von Friseurmeister Werner … Und am Rande lernt man noch, dass die Perserteppiche früher wohl mit Sauerkraut gereinigt wurden.