Das bunte Treiben im kleinsten Staat des Deutschen Reichs

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"Auf dem Hügel befindet sich ein Fleck, noch immer überwiegend backsteinrot, mittelalterfarben, und aus dieser Entfernung allenfalls fingernagelgroß: der kleinste Staat des Deutschen Reiches, seine älteste Republik."

Im kleinsten Staat herrscht buntes Treiben: Es geht um Schüler, Kaufleute, Senatoren, Reichsdiener, Anwälte - und um ihre Frauen, Geliebten, Töchter und Hausmädchen. Eine Perspektive wischt in die andere, eine Geschichte berührt die andere oder verwebt sich mit ihr, und so entsteht ein über 15 Jahre angelegtes Panorama einer Stadt und ihrer Leute.

Ich bin ganz froh, dass ich vor der Lektüre nicht den Umschlagtext gelesen hatte, der ganz andere Dinge fokussiert, als in diesem Roman für mich wirklich im Zentrum standen - ich hätte wahrscheinlich eine Brille aufgehabt, durch die ich die Lektüre gefiltert hätte. So bin ich also recht unbedarft an diesen Roman herangegangen, wusste nichts von einer Querverbindung zu den Buddenbrooks (hab ich auch nie gelesen, also hat es nicht mal geklingelt, als es um Tommy "der Pfau" Mann ging), und konnte das Sittenbild, das Mahlke entwirft, ganz uneingeschränkt genießen.

Es gibt sehr, sehr, sehr viele Figuren, und sehr, sehr, sehr viele Perspektiven. Manche sind sehr distinkt, wie die des Reichsdieners Isenhagen oder des Dienstmädchens Ida; andere waren für mich schwerer auseinanderzuhalten, v.a. wenn es um die beiden (mehr oder weniger) großen und begüterten Familien des Romans ging, die Lindhorsts und die Schillings. Lange Zeit hatte ich Schwierigkeiten, alle richtig zuzuordnen, und bei manchen nur am Rande erwähnten Figuren ist es mir bis zum Ende nicht gelungen. Nimmt man das aber einfach so hin, dann entsteht ein köstliches Lesevergnügen, das zwischen den Figuren wandert wie zwischen guten Freunden.

Szenen werden von Mahlke selten handzahm aufgebaut - viel eher findet man sich bei Beginn eines Kapitels mitten darin und muss sich zurechtfinden, vieles bleibt ungesagt und zwischen den Zeilen versteckt. Aber nach und nach wird dann schon alles klar - meistens jedenfalls. Mann muss schon bei der Stange bleiben und konzentriert lesen, längere Unterbrechungen würde ich definitiv nicht empfehlen. Das ist aber auch nicht schwierig, denn Mahlke schreibt mit einem hintergründigen Witz, mit einem Sinn für den feinen Humor des Alltäglich und Absonderlichen, da will man einfach weiterlesen. Wenn sich zum Beispiel Bäckermeister Bannow (der kein Bäcker ist, aber seine Ahnen waren es eben) ins Sichtfeld der Henriette Schilling schiebt, ist da erst der Hund, dann der Bauch, und dann der Rest des Herrn Bannow. Diese fast schon Loriot'schen Karikaturen machen wunderbare Freude.

Dabei mangelt es den Figuren und ihren Geschichten aber keinesfalls an Tiefe. Man muss nur sehr genau lesen, um all die gesellschaftlichen und politischen Spitzen zu verstehen, den latenten Antisemitismus, der mit keinem Wort zur Sprache kommt. Die Beziehungen der Menschen untereinander versteht man oftmals erst in der Rückschau, Mahlke erwartet da schon, dass man aufmerksam liest. Aber dann ist es ein wirklich faszinierendes Panoptikum, eine Zusammenschau aus einzelnen Schicksalen, politischen Wendungen und künstlerischer Freiheit. Und trotz offenem Ende bleiben keine Fäden lose.

Ich habe Mahlkes Roman gerne gelesen, habe aber letzten Endes den Eindruck, über die angenehme und vergnügliche Lesezeit hinaus nicht viel davon mitzunehmen. Das kann man jetzt schade finden, oder man freut sich einfach darüber, im Moment des Lesens eine gute Zeit gehabt zu haben - ich entscheide mich für Letzteres.