Der Versuch einer Neuauflage von „Buddenbrooks“ ist gescheitert.

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wandablue Avatar

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Kurzmeinung: BruchstückTechnik: zu oberflächlich für mich.
Auf fast 500 Seiten entwickelt die Autorin die Familiengeschichte der Lindhorsts, die so viele Kinder produzieren, dass Marie, die Mutter meint, es seien zu viele, um alle so zu lieben, wie es sich gehöre. Man schnappt nach Luft. Marie hat nämlich nichts zu tun und zwar so rein gar nichts. Es wäre nicht zu viel verlangt gewesen, die Kinderschar angemessen zu betreuen. Aber die feine Gesellschaft hat sich noch in dem Zeitraum der Romanhandlung, circa 1890 bis 1906, kaum um die Nachkommenschaft gekümmert. Das haben andere getan, Dienstboten. Selber trank man Tee, rümpfte die Nase über andere, verreiste, wobei andere die Koffer packten, machte Musik und die Männer konkurrierten um Rang und Ansehen und gingen fremd. Ja, sorry, so wars. Diese Schiene der feinen Lübecker Gesellschaft hat Inger-Maria Mahlke vortrefflich zu Papier gebracht. In ihrer Erzählung reitet sie freilich xmal zu oft auf dem Begriff des kleinsten Staats des deutschen Reiches herum und nervt damit.

Der Kommentar:
Die Erzählung mäandert umher: der die Leser anfangs in Beschlag nehmende Junge Georg, der vom Großvater abgeschoben in ein Jungsinternat unter der unkreativen „Anstalt“ leidet, bekommt erst am Ende, nun als Erwachsener, einen weiteren Auftritt, wobei er resümiert, was aus ihnen allen, nämlich seinen Altersgenossen und den übrigen Zöglingen der Anstalt geworden ist. Einer wurde Schriftsteller und veröffentlichte ein berühmt-berüchtigtes Buch über seine Heimatstadt „Die Buddenbrooks“.
Die Passagen, wie sich die Bürger Lübecks über „Die Buddenbrooks“ aufregen und skandalträchtig sich gegenseitig im Beschriebenen wiederzufinden suchen, sind allerdings nur mäßig interessant. Viel mehr hätte interessiert, was aus Isenhagen, dem Ratsdiener, mit seiner unglücklichen Liebe zu einer mit einem Schwulen verheirateten jungen Frau geworden sein mag und wie Ida, die Dienstmagd mit ihren mannigfaltigen Versuchen eines sozialen Aufstiegs und ihrem Scheitern fertig geworden ist. Warum ist sie keine Sozialdemokratin geworden zum Beispiel?
Und warum hat die Autorin, Georg so völlig links liegen lassen, nachdem sie so viel Zeit darauf verwendet hat, ihn uns ans Herz zu legen, unsere Sympathie zu wecken, denn Georg ist so ziemlich die einzige Figur, mit der man sich hätte solidarisieren können. Zuerst trösten wir uns mit ihm jede Woche eine halbe Stunde lang im warmen Bad in einer öffentlichen Badestube, wo er seine Striemen behandelt, dann lässt ihn die Autorin fallen wie eine heiße Kartoffel. Leider ist das nicht die einzige Figur, die uns die Autorin nahe bringt und dann fallen lässt. Sie strickt und strickt und es könnte ein hübsches Muster entstehen, aber dann lässt sie absichtlich die Maschen fallen. Man kann diese Technik "Kunst" nennen, oder auch "Loch im Strumpf". Ich bevorzuge neue Strümpfe ohne Löcher.
Allenfalls bei der Verfolgung der Familie Lindhorst lässt die Autorin so etwas Ähnliches wie einen roten Faden erkennen. Freilich ist die Problematik Judentum vollkommen ausgespart. Dass es sich um eine jüdische Familie handelt, ist im Roman kaum erkennbar, sie leben kein jüdisches Leben. Und sie reden auch nicht darüber, dass sie Juden sind. Oder gewesen sind. Die Männer reden sowie so wenig, wenn sie nicht in fremden Betten turnen, kommandieren sie herum. Der ekligen Schilderung der Syphilis wird dann wieder reichlich Raum gegeben.

Die Autorin kann schreiben und vorzüglich mit Sprache umgehen, keine Frage. Was indes fehlt ist Zusammenhang, zu viel bleibt liegen, zu viel Gewicht liegt auf den „gnädigen Herrschaften“ und auf den sexuellen Praktiken der jungen Herren. Statt das Problem der Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung vertiefend zu behandeln, verliert sich die Autorin in der Ausfeilung völlig unwichtiger Details. Details können Atmosphäre schaffen, aber in „Unsereins“ verschleppen sie den Roman; Innenansichten fehlen vollständig, man schaut drauf und fühlt: nichts.

Anmerkung zum Hörbuch: Normalerweise liest ein Hörbuch einen Roman nach oben. Trotz der wunderbar eingelesenen Interpretation von Julia Nachtmann ist es diesem Roman dennoch nicht gelungen, mir mehr Sterne abzuringen: dies spricht für sich. Dem Hörbuch fehlt zudem das Verlesen des Personenverzeichnisses, was bei einem so sprunghaften Roman aber nicht unwichtig gewesen wäre. Was wirklich positiv zu Buche schlägt, ist die Hörbuchsprecherin selbst. Sie macht alles richtig.

Fazit: Dasselbe hat man schon oft gelesen. Auch wenn der Roman mit schönen Formulierungen glänzt und mit dem Erscheinen des Romans „Buddenbrooks“ von Thomas Mann jongliert, reicht dieser Spielzug meiner Meinung nicht aus, um literarische Bedeutung zu kreieren.

Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Verlag: Für das Hörbuch: Argon, 2023
Sonst: Rowohlt, 2023