Downtown Abbey in Norddeutschland

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Downtown Abbey im „kleinsten Staat des Deutschen Reiches“

2018 bekam Inger-Maria Mahlke den Deutschen Buchpreis für ihren Roman „Archipel“. In diesem Jahr legt die gebürtige Lübeckerin damit einen veritablen Heimatroman vor. „Unsereins“ ist aktuell das Buch des Monats im NDR. Auf 500 Seiten erzählt sie die Geschichte der Stadt und ihrer Bürger:innen in der Wendezeit vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die gute alte Zeit, da geht sie dahin. Der erbitterte Streit über die Konservendosenfabrik und die Versorgung der städtischen Bevölkerung mit Wasser-Closetts“ sind erste Vorboten.

Bei Nennung des Ortes des Geschehens gehen natürlich alle Glocken an. Lübeck, Familie Mann, die „Buddenbrooks“, der Nobelpreis. Das Spiel mit diesen Assoziationen beherrscht Mahlke. Aber, so wie die Lübecker Gesellschaft den Roman von „Tomy, dem Pfau“ behandelt wie einen Schlüsselroman, der zur Belustigung und großen Ärgernissen in den Salons führt, sollte das heutige Publikum sich nicht in die Lektüre stürzen. Man täte dem Buch großes Unrecht. Es geht im Text nur am Rande um „die“, die vergangenen, seienden oder werdenden Senatoren, Konsuln und Bürgerschaftsmitglieder. Natürlich alles Herren, die Stützen der Gesellschaft. Ich lebe in Rostock und kann also beurteilen, was es bedeutet, von Senatoren und einer Bürgerschaft mit 52 Mitgliedern regiert zu werden. Und es war damals schon wie heute. Die Bürgerschaft ist nichts anderes als in anderen Städten ein Stadtrat, benehmen tun sich die Herrschaften allerdings manchmal als bildeten sie die UNO Vollversammlung.

„Unsereins“ zeigt wie in einem detailreichen Wimmelbild die „anderen“.
Die Bediensteten, die im Hintergrund schuften wie Leibeigene und tags wie nachts ein Auge und ein Ohr auf die Herrschaft haben. Für diese Menschen steht exemplarisch Ida, das Mädchen im Hause der Familie Lindhorst. Sie selbst hat in ihrem Leben auch schon bessere Zeiten gesehen und sich geschworen, sie werde nicht als Dienstmädchen enden. Und Ida hat es als Bedienstete und Frau gleich zweifach schwer. Die kaisertreue, noch fest hierarchisch strukturierte, absolut männerdominierte Gesellschaft zwängt alle Frauen, auch die Damen der Gesellschaft, in enge Korsetts, im materiellen als auch übertragenen Sinne. Und so kann die Jagd nach dem passenden Gatten ermüdend und kummervoll werden. Doch die Form muss gewahrt bleiben, um jeden Preis, die Produktion der „Stammhalter“ gewährleistet sein. Einzelne „Ausbrecherinnen“, die weder Gattin noch gar Mama werden sondern zum Beispiel Schriftstellerin, werden nach außen von den Damen misstrauisch beäugt, im Geheimen bewundert.

Neben den Klassen- und Geschlechtsunterschieden tröpfelt ein stetiges Gift in den norddeutschen Protestantismus: der Antisemitismus. Der macht auch vor der etablierten und ehrbaren Familie Lindhorst nicht halt. Eine bittere Erkenntnis. Und eine weitere folgt sogleich: der Lohndiener Charles, durchaus erfolgreicher Geschäftsmann, ist der Liebling der Damenwelt und leider schwul. Auch die Vermutung, dass „der Tomy“ zu seinem Geschlecht neigt, hält sich beständig, und wird verschwiemelt und verschwitzt von Mund zu Mund getuschelt.

Und doch haben wir allerlei Vergnügen, auch am Rande aller Beschwernis und Rückschläge. Denn, hinter den Fassaden und durch alle Klassen hindurch, gibt es Amouren abseits des Weges, Fehltritte und zweifelhafter Vaterschaften. Manche gelingen, manche führen ins Unglück.

Eine Lektüre wie gemacht für diese Jahreszeit.