Familiengeschichte aus dem "kleinsten Staat im Reich"

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Der neue Roman von Inger-Maria Mahlke ist eine Familiengeschichte, die in der Hansestadt Lübeck angesiedelt ist, der Stadt, in der die Autorin aufwuchs, aber auch die Geburtsstadt von Schriftstellern und Dichtern wie Thomas Mann oder Emanuel Geibel. Beide finden im Roman Berücksichtigung, Mann wird genannt, Geibel erhält den Namen „Keitel“, sein Denkmal in der Stadt wird des öfteren erwähnt.
Seine Tochter Marie bildet mit ihrem Mann, dem Rechtsanwalt Friedrich Lindhorst und ihren acht Kindern die Familie, um die es in diesem Roman hauptsächlich geht. Eine Vielzahl weiterer Protagonisten, die auf unterschiedliche Weise mit der Familie in Beziehung stehen oder Berührungspunkte haben, verdeutlichen die gesellschaftlichen Strukturen in der Zeit von Januar 1890 bis September1906, die Zeit, in der der Roman spielt. Um einige Beispiele zu nennen: Ida, das Dienstmädchen, bildet sich heimlich weiter, um als Stenotypistin eine bessere Stelle zu bekommen und nicht ständig die Wünsche ihrer Herrschaft erfüllen zu müssen. Der Ratsdiener Isenhagen hat neben seiner Arbeit einige geheime „Plehsiere“ und macht dann einen Fehler, der sein Leben verändern wird. Henriette kann erst ein selbstbestimmtes Leben als Schriftstellerin leben, als ihr unverhofft das Erbe ihres Vaters zufällt.

Inger-Maria Mahlke erzählt chronologisch mit Zeitsprüngen, die dem jeweiligen Kapitel vorangestellt sind. Dabei stehen andere Protagonisten im Vordergrund, so dass Aufmerksamkeit gefragt ist. Einiges wird detailliert erzählt, anderes wiederum wird nur zwischen den Zeilen erkennbar. Die Autorin erzählt von Macht und Ohnmacht, von der Stellung der Frau, deren Zugang zur Bildung sehr erschwert wurde, wenn er denn überhaupt möglich war, dem Leben derer, die sich ihren Lebensunterhalt mehr oder weniger mühsam verdienen, von ausweglosen Situationen, sowohl für geschwängerte und entlassene Dienstmädchen wie auch für Söhne „aus gutem Hause“, von gescheiterten Lebensentwürfen und hohen Erwartungen – kurz: Inger-Maria Mahlke zeichnet ein gesellschaftskritisches Bild der Zeit.

Ein Personenverzeichnis, auf das während der Lektüre hin und wieder zurückgegriffen werden muss sowie zwei Karten von Lübeck in den Vorsätzen komplettieren den Roman. Das Cover passt in die Zeit und zeigt auf gelungene Weise Symmetrie und Asymmetrie.

Inger-Maria Mahlke, Jahrgang 1977, hat Rechtswissenschaften an der FU Berlin studiert und am Lehrstuhl für Kriminologie gearbeitet. Für ihre Romane wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt erhielt sie für „Archipel“ den Deutschen Buchpreis.

Fazit: ein anspruchsvoller, sehr lesenswerter Roman über die Gesellschaft um die Jahrhundertwende des letzten Jahrhunderts.