Gesellschaftsroman, neu erzählt

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Auf beinahe 500 Seiten entfaltet Inger-Maria Mahlke in ihrem Roman „Unsereins“ das gesellschaftliche Panorama des kleinsten Staats Deutschlands, das unschwer als Lübeck des 19.Jahrhunderts identifiziert werden kann. Mahlke legt damit einen Gesellschaftsroman vor, der die Literatur des 19.Jahrhunderts referenziert und dann doch leise moderne Töne anschlägt.

Über einen Zeitraum von 15 Jahren erstreckt sich dieses Panoptikum, das Figurenpersonal ist groß, die Ähnlichkeit zu Thomas Mann „Buddenbrooks“ unverkennbar. Im Zentrum steht einerseits die Familie Lindhorst mit ihren acht Kindern und deren Dienstmädchen Ida, andererseits der Beamte Isenhagen sowie Charlie Helms und dessen Frau Tilly. Vor dem Hintergrund politischer wie gesellschaftlicher Veränderungen verfolgt man das Leben der großbürgerlichen Familie Lindhorst, die immer wieder mit antisemitischen Ressentiments konfrontiert ist. Mahlke porträtiert nicht nur die Kaufmannsfamilie, sondern auch dessen Dienstmädchen Ida, das durch den Tod der Eltern einen gesellschaftlichen Abstieg erfahren hat und schließlich sich als Bedienstete verdingen muss. An Ida und auch den anderen Frauenfiguren – die Schriftstellerin Henriette, Tilly oder Martha – zeigt Mahlke, mit welchen gesellschaftlichen Repressionen Frauen konfrontiert waren. Die Frauen in Mahlkes Roman sind keine Effi oder Emma, sie begehren leise auf – auch wenn es dabei bleibt. Im Liebesreigen des Romans fällt jedoch auf, dass etliche Männerfiguren jene sind, die sich unglücklich verlieben, auf Distanz Gehaltene sind – wodurch Mahkle ein stereotypes Narrativ des Romans des 19.jahrhunderts bricht.

Viele Themen werden aufgegriffen, die Homosexualität des Lohndieners Charlies, der diese durch die Ehe mit Tilly versucht zu maskieren, die Orientierung am Urteil der Gesellschaft oder auch der Beginn der Sozialdemokratie. Mahlkes Erzählen ist ein Zeigen, vielfach erinnert es an ein filmisches Erzählen, die Strukturen des Romans in ihrer Episodenhaftigkeit an eine Serie – oder eben an einen Feuilletonroman des 19.Jahrhunderts. Dass hierbei der Spannungsbogen etwas aus dem Blick gerät, ist naheliegend.

Das intertextuelle Spiel mit Mann wie auch anderen Romanen des 19.Jahrhudnerts – hier sei „Effi Briest“ erwähnt - ist lustvoll und mag besonders jene freuen, die mit diesen Texten vertraut sind. Dass Thomas Mann als Nebenfigur ebenso auftritt und stets nur der „Pfau“ genannt wird, ist ein kleiner Seitenhieb, gerade auch, wenn das Erscheinen seines Romans die Gesellschaft des kleinsten Staates Deutschland in Aufruhr bringt – wie das auch bei Erscheinen von Manns Roman tatsächlich der Fall war. Auch Familie Lindhorst zerfällt, eine zunehmende Orientierung mancher Kinder an den Künsten und weniger an der Kaufmannschaft ist zu entdecken. Gerade weil der als historischer Gesellschaftsroman angelegte Text über zahlreiche Figuren verfügt und mit Distanz erzählt, lässt dies viel offen – und bleibt dadurch auch Haltung schuldig.

Die Stärke des Romans ist sein Erzählton, die sanfte Ironie, die Bilder, das allwissende Erzählen aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts. So beginnt und endet der Roman mit einem Drohnenflug und ist durchzogen von einer Farbsymbolik – hier vornehmlich Orange, teils Grau – die auch hier wieder auf Manns Werk referenziert.

Inger-Marie Mahlkes Roman ist somit sprachlich wie erzählerisch ein Leseerlebnis, bleibt aber thematisch wie in seiner Handlung eine klare Position schuldig. So sehr ich das intertextuelle Spiel genossen habe, wirft für mich der Text auch die Frage auf, ob und wie er gelesen werden kann, wenn Lesende diese Referenzen nicht dekodieren können. Der Text sei somit jenen empfohlen, die an der Literatur des 19.jahrunderts wie auch an literarischem Erzählen per se Gefallen finden.

Rezensionsexmplar via vorablesen & Rowohlt