Herzlich willkommen in der Provinz

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marapaya Avatar

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Für Familienepen habe ich ein echtes Faible. Breit aufgefächert wird die Geschichte einer oder mehrerer Familien in einem bestimmten Zeitabschnitt dargestellt. Viele unterschiedliche Figuren, viele Befindlichkeiten, kleine und große Probleme, Gefühle, Pflichten, Erwartungen und Enttäuschungen, Geburten, Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen. In fiktiven Familien läuft selten alles rund und man kann sich herrlich von seiner eigenen Familie ablenken lassen. Inger-Maria Mahlkes Familienepos spielt in einer nordischen Provinz und lässt mich schnell an die Buddenbrooks von Thomas Mann denken. Diese eine Hansestadt und ihre eigenwillige Kaufmannspolitik wahrscheinlich. Im Mittelpunkt steht die bürgerliche Familie Lindhorst. Als 1890 als Nachzügler die Tochter Marthe zur Welt kommt, sind die ersten Söhne schon fast aus dem Haus und die Mutter mit ihrem Nervenkostüm am Ende. Doch Mahlke zeichnet kein eindimensionales Familienbild der Lindhorst. Sie nimmt die Stadt, den „kleinsten Staat des Reiches“ in den Blick und zeigt in einer Zeitspanne von 16 Jahren die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen um die Jahrhundertwende auf. Ihr Blick ist eingefärbt. Sie erzählt als Autorin der heutigen Zeit. Rückt die Frauenfiguren neben die männlichen Charaktere und zeigt, wie wenig Freiraum ihnen zugestanden wurde, fast egal ob Dienstmagd oder Gnädige. Einigen Figuren kommt sie ganz nah, erzählt wie es in ihnen aussieht. Andere betrachtet sie nur distanziert durch die Augen ihrer Figuren. Es ist schwer auszumachen, welches die Hauptfiguren in ihrem Roman sind. Denn ihr Erzählen ist wie ein Umherschweifen vom Kirchturm, erfasst mal den einen und dann den anderen Bewohner des Städtchens. Viele Momentaufnahmen, präzise und einfühlsam abgebildet, erzählen sie aneinandergereiht eine Geschichte vom Kreislauf des Lebens, von Stillstand und Veränderung.