Kleinster Staat im Reich (Familiengeschichte, Lübeck)

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lindarabbit Avatar

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Der kleinste Staat im deutschen Kaiserreich. Und einige Personen, denen in dieser Stadt Lübeck gefolgt wird. Vom Pennäler bis zum Dienstmädchen...

Anfänglich hat es mich Überwindung gekostet, ich schlief regelmäßig nach ein paar Seiten ein (denn wo liest man so ein oppulentes Werk? Genau, abends im Bett kurz vor dem Einschlafen…). Dann nach einiger Zeit hatte ich mich eingelesen, aber immer noch nur ein paar wenige Seiten… Es ist in der Tat oppulent das Werk. Viele Menschen, viele Situationen, Tagesnachrichten, Zeitgeschichte, 19. Jahrhundert Sex (Männer mit Männer, Männer mit Jungfrauen…). Bei manchen Redewendungen laut auflachend, bei manchen Worterfindungen tief sinnierend… Aber die Buddenbrooks liest man ja auch nicht an einem Tag. Die Mann Familie kommt drin vor. Schwule Männer, Verhaftungen, Scheinehen, Scheidungen, Tod, Verarmung der Frauen…Schwangerschaften, sitzengelassene junge Frauen, in Tod getriebene Dienstmädchen...
Das gab es schon zu allen Zeiten. Schön, dass es erwähnt wird. Keine heile Zeiten!

Zum Glück wird am Anfang eine Legende der mitwirkenden Personen vorgestellt. Im Verlauf des Romans blätterte ich immer wieder zurück, um mich zu orientieren wer was ist und zu welcher Familie gehörte… Es lässt sich schnell mal den Faden verlieren. Denn es gibt Mitspielende im Roman, die nicht leicht verständlich sind und auch nicht besonders sympathisch. Der Isenhagen, ein einfacher und witzloser Charakter, ein Staatsdiener. Charlie, der Lohndiener. Ida, das Hausmädchen, ausgebeutet und drangsaliert. Die „Gnädige“ (ein bipolarer Charakter), äußerst anstrengend und doch geliebt von ihren vielen Kindern. Georg, der ständig gemobbt wird.

Geduldig las ich das Buch immer wieder, aber kein Kopfkino lief ab. Es ist sicherlich eine interessante Lektüre, Zeitspiegel des kleinsten Staates im deutschen Kaiserreich. Aber es hat mich auch abgestossen und ich bin froh, dass diese schrecklichen Zeiten vorbei sind... Da ich vor kurzem nach langer Zeit wieder einmal in Lübeck war, hab mich mit dem Städtchen vertraut gemacht und konnte daher einige Ecken im Buch wiedererkennen.
1890, eine gut gestellte Familie und der kleinste Staat im Deutschen Reich, mir bisher unbekannt.

Die Schreibe ist nicht uninteressant (um mit einer literarischen Floskel zu beschreiben). Allerdings würde ich sie nicht täglich lesen wollen. Manche vulgären Begriffe gehören wohl heutzutage dazu (Arschbombe, Scheiße, ficken...)
Das Umschlagsbild erinnert an ein kleines Familienmuseum wo ich vor kurzem war, auch mit so einer Kommode und Familienbilder darüber.