Liebe- und humorvolle Figurenporträts

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Eine epische Familiengeschichte ist der Roman „Unsereins“ von Inger-Maria Mahlke eigentlich eher nicht, auch wenn der Familie Lindhorst in ihm mehr Platz eingeräumt wird als anderen Figuren. Neben dem Blick auf die Mitschüler und andere höher gestellte Familien des „kleinsten Staates des Deutschen Reiches“ fällt dieser eben auch auf das alternde Hausmädchen Ida, das nicht „im Dienst“ sterben, sondern noch etwas anderer im Leben erreichen möchte, den Ratsdiener Isenhagen und seine Liebe zu Matthilde Helms, die wiederrum mit dem schwulen Lohndiener Charlie eine Scheinehe führt, damit seine Neigungen nicht auffallen. Aber auch die Familien der Senatoren haben so mit ihren Problemen und Sorgenkindern zu kämpfen: die Schillings suchen nach gesellschaftlicher Anerkennung, da macht es eine unverheiratete Tochter aus erster geschiedener (!) Ehe nicht einfacher, zumal wenn sie auch noch Spukgeschichten schreibt, in denen der Nachbar mit seinem Hund die Hauptrolle spielt, und die nach einer Erbschaft ein unabhängiges Leben in der „Kurblase“ leben kann.
Auch die Kinder der Lindhorsts sind alles andere als gesellschaftsfähig, seien es unverwiderte Liebesgefühle, der Hang zur Spielsucht oder die „deutsche Krankheit“, die man sich in Bordellen holen kann. Hinzu kommt eine nervenkranke Mutter mit einem verschwenderischen Lebensstil und schlechter gehende Geschäfte, die, wenn schon keinen gesellschaftlichen Abstieg, so doch den Umzug in einfachere Verhältnisse bedeuten.
Nicht nur der Ort, auch viele Personen und die gesellschaftlichen Um- und Zustände lassen an Thomas Manns „Buddenbrooks“ erinnern. Der Dichter selbst taucht namentlich auf, zunächst noch als Schüler, genannt der Pfau, der allerdings nach dem Tod des Vaters recht klang- und sanglos aus der Gesellschaft verschwindet, um Jahre später mit seinem Buch, das er über die Gesellschaft seines einstigen Heimatortes geschrieben hat, dorthin zurückkehrt. Wer setzt wem hier ein Porträt? Eine Frage mit Tradition, aber letztlich ohne wirkliche Bedeutung. Der Roman ist keine Neuauflage, keine Modernisierung der Buddenbrooks.
Mit ihm gemein hat er die sehr detaillierte, liebevolle Porträtierung seiner Figuren, die sich manchmal aber auch nicht den humorvoll ironischen Seitenhieb verkneifen kann. Auch die Beschreibung von Natur und Stadtleben sind sehr anschaulich und atmosphärisch. Gerahmt – und das ist der jüngeren Zeit durchaus geschuldet – wird der Roman von der Einnahme einer Perspektive, die moderne Errungenschaften und die Erzählweise des Films voraussetzt: Wir nähern uns dem Erzählten aus der Perspektive eines Regentropfens, der auf den „kleinsten Staat des Deutschen Reiches“ fällt, und wir verlassen ihn wieder, indem wir auf die Kinder der Familie Lindhorst am Ende auf dem Dach ihres alten Familienhauses zurücklassen, aus Sicht einer darüber kreisenden Drohne. Auf jeden Fall ein interessanter erzähltechnischer Aspekt.
Einige Fragen sind für mich allerdings bei der Lektüre offengeblieben: Wohin will die Erzählung? Es gibt keinen stringenten Leitfaden, die Erzählung springt mal hier, mal dort hin, mancher Faden wird ab und an wieder aufgegriffen, mancher aber auch nicht mehr: Was wird aus dem Schüler der „Anstalt“ Georg, was aus seinem Mitschüler Otto? Was ist mit Robert, der sich aus Japan auf den Heimweg gemacht hat? Kündigt der Schlusssatz „Aber vielleicht ist dies nicht das Ende, sondern nur der Anfang.“ einen möglichen weiteren Teil an?
Die Geschichte ist nett zu lesen, die Figuren mehr oder minder sympathisch oder zumindest unterhaltsam, aber sind sie „unsereins“? Der Titel gibt Rätsel auf: Unsereins im Sinne der Zugehörigkeit zu einem kleinen Stadtstaat okay, aber dafür sind seine Bewohner viel zu unterschiedlich. Unsereins dann im Sinne einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht? Aber dafür sind die einzelnen Figuren viel zu individuell, kaum eine achtet darauf, sich an die Konventionen zu halten: die Damen reisen allein, betrinken sich, suchen Liebschaften, die Herren haben Liebschaften oder besuchen Bordelle oder andere sexuelle Neigungen. Auch wenn sie es nicht offen ausleben, sondern sich hinter einer bürgerlichen Fassade verbergen – wie auch Thomas Mann, so weiß doch jeder darum. Nach außen hin geht es sehr häufig um gesellschaftliche Akzeptanz, darum, dazugehören zu wollen, wofür die Figur des Charlie Helms sinnbildlich steht, ist es doch seine Aufgabe, gesellschaftliche Kontakte zu den höheren Kreisen zu vermitteln. Am ehesten ist es noch Ida, die Angst hat, gegen ein Rollenbild zu verstoßen, wenn sie sich heimlich aufmacht, um Stenografie zu lernen, um mehr aus sich zu machen. Und doch geht es zugleich auch immer darum, sich selbst zu finden und zu leben, den Neigungen nachzugeben. Meint „unsereins“ insofern auch uns alle: unsereins Menschen? Ansonsten bliebe die Lektüre eines gesellschaftliche Porträts einer Zeit um 1900 zwar nette Unterhaltung und vielleicht historisch nicht uninteressant, aber darüber hinaus auch nicht viel mehr.