Verfall einer anderen Lübecker Familie

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aischa Avatar

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Natürlich wäre es unfair oder zumindest vermessen, wollte man Inger-Maria Mahlke auch nur ansatzweise mit dem Literaturpreisträger Thomas Mann vergleichen. Und doch hat man ihn bei der Lektüre von "Unsereins" unweigerlich im Kopf, und dies nicht nur, weil er hier zur Romanfigur wird. Nein, wer je "Buddenbrooks - Verfall einer Familie" gelesen oder eine der Verfilmungen gesehen hat, wird sich beim Lesen des neuesten Romans von Mahlke definitiv daran erinnert fühlen. Schon der formale Aufbau weist Ähnlichkeiten auf: 15 Teile (gut, bei Buddenbrooks sind es "nur" elf) mit zahlreichen Kapiteln erzählen von einer kinderreichen Lübecker Familie inmitten des kaisertreuen Großbürgertums. Die Zahl der handelnden Personen ist - trotz des vorangestellten Verzeichnisses - eine Herausforderung; ich gestehe, dass ich nicht nur anfangs oft hin- und herblättern musste, um den Überblick zu behalten.

Aber die nicht immer einfache Lektüre lohnt sich unbedingt. Mahlke, ebenso wie Thomas Mann in Lübeck aufgewachsen, schafft ein interessantes, hervorragend recherchiertes Sittengemälde des ausgehenden 19. Jahrhunderts und knüpft damit zeitlich an Manns ersten großen Gesellschaftsroman an. Sie zeigt Ausschnitte aus höchst unterschiedlichen Lebenslinien, von Kaufmanns- und Senatorenfamilien, Gymnasiasten, Angestellten und Dienstboten. So unterschiedlich die Lebensumstände der Figuren auch sind, eines ist allen gemein, insbesondere den Frauen: der Mangel an Freiheit. Nicht nur die damalige Mode mit ihren steifen Korsetts, sondern vor allem gesellschaftliche, soziale und familiäre Normen schnüren die Frauen regelrecht ein. Mädchen lernen schon früh, dass sie in der Öffentlichkeit zu schweigen haben. "In Diensten" sind sie völlig abhängig vom jeweiligen Dienstherrn, hat sie dieser geschwängert, werden sie entlassen und sehen oft als einzigen Ausweg aus der Schande den Suizid.

Aber auch Bürgerliche waren weit davon entfernt, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Studieren war den Männern vorbehalten, ein Frau "aus gutem Hause" kam der Bildung noch am nächsten, indem sie einen Professor heiratete. Und auch die Freiheit der Männer war beschränkt: Homosexualität war strafbar, Schwule lebten in ständiger Angst vor Denunziation. Und wer wirtschaftlich oder politisch Karriere machen wollte, musste geschickt taktieren und nur ja keine der Konventionen verletzen.

Mahlkes Stil ist oft detailreich, dann wieder sehr zurückgenommen, manches wird nur angedeutet, vieles knapp geschildert, etwa die häusliche Gewalt in einer Familie: "Sein Vater war Schlachtergehilfe, seine Mutter schwanger oder am Stillen, mit Hämatomen von violett bis gelb bedeckt." Mit knapp 500 Seiten ist der Roman recht umfangreich, doch ich möchte keine Seite missen. "Unsereins" ist ein anspruchsvolles, gewichtiges Epos, das die volle Aufmerksamkeit der Leser*innen fordert, dafür aber tiefe Einblicke in das Ende der deutschen Kaiserzeit erlaubt.