Unvorstellbar real

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Massachusetts. Noah Gardner, er wird Bird genannt, wächst bei seinem Vater auf, nachdem seine Mutter vor Jahren plötzlich verschwand. Der Zwölfjährige hat gelernt, dass er sich unauffällig in der Gesellschaft bewegen muss, um nicht aufzufallen. Nach einer wirtschaftlichen Krise wurde PACT verabschiedet, ein Gesetz zum Schutz und Erhalt der Amerikanischen Kultur und Tradition. Der Junge hat sich mit Sadie angefreundet, die ebenfalls asiatischer Herkunft ist. Sie verschwindet ebenso plötzlich wie damals seine Mutter. Als er einen Brief erhält, weiß er ganz sicher, dass dieser von seiner Mutter ist, ohne dass darin ein einziges geschriebenes Wort steht. Er beginnt mit der Suche nach ihr. Es geht um einen Gedichtband und um eine noch viel größere Sache.

Celeste Ng greift in ihrem dritten Roman ein aufwühlendes Thema auf. In der Dystopie geht um die fehlenden Rechte von Amerikanern asiatischer Herkunft. Da im Roman keine Jahreszahl erwähnt wird, ist die Beschreibung gruselig genug, kennt man doch die Geschichte der Ureinwohner Amerikas. Die Autorin mit den ebenfalls asiatischen Wurzeln beschreibt eine Welt, in der zum Erhalt der amerikanischen Kultur Familien auseinandergerissen werden und jegliche Demonstration verboten ist. Birds Vater wurde bereits eine Arbeit zugeteilt, die ihn nicht auslastet. Die Regale seiner Bibliothek sind leer, sodass er nichts zu tun hat. Er beugt sich, weil er die Wohnung und das wenige Gehalt zum Leben benötigt. Auch das scheint wie aus dem Leben gegriffen. Lediglich PACT ist nicht so geläufig, weil erdacht, aber mühelos vorstellbar. Es sind auch nicht nur Black lives matter oder Me too angesprochen. Überall auf der Welt gibt es derartige Missstände.

Der Roman erzählt aber auch von der Verbundenheit einer Mutter und ihrem Kind über die Jahre der Trennung. Bird macht sich auf die Suche nach Margaret Miu und erfährt immer mehr von ihr. Ihre Flucht vor dem System ist gleichzeitig seine Bedrohung. Unterschwellig sind hier jede Menge Ansätze, über die aktuelle Gesellschaft nachzudenken. Das Thema der Verfolgung ist in der Weltgeschichte nicht fiktiv. Auch mutige Gegner der Gesetzgebung gab es schon immer. Meistens arbeiten sie verdeckt mit cleveren Methoden. Ihre ruhige Erzählweise und der sehr junge Protagonist bilden den Gegenpol zu der fiktiven Gewalt, die vom Staat ausgeht. Es wird damit natürlich auch an die Menschlichkeit appelliert.

Celeste Ng lässt in Unsere verschwundenen Herzen eine Welt entstehen, die menschenverachtend und abstoßend erscheint. Je mehr man sich mit Birds Welt beschäftigt, desto mehr Parallelen entdeckt man zur Gegenwart. Eine Dystopie hat immer ein scheußliches Ende und lässt einen konstruierten Blick in die Zukunft zu, indem man Thesen zugrunde legt. Der Roman sensibilisiert für ein humanes Miteinander und ist trotz des heftigen Themas ein Leseerlebnis.