Drei Frauen ringen um Frauenrechte in der Wissenschaft

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Das Cover und der Titel dieses Debütromans der jungen Berlinerin Ann-Sophie Kaiser verlockten mich eigentlich weniger, das Buch in die Hand zu nehmen. Vielmehr interessierten mich die Stichworte „Lise Meitner“ und „erste Frauen an deutschen Universitäten“, um die sich dieser Roman drehen sollte. Diese Zeitreise an den Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich auf jeden Fall gelohnt.

Die Autorin verknüpft in ihrem Roman „Unter den Linden 6“ die Schicksale der historischen österreichischen Physikerin Lise Meitner (1878–1968) und der beiden fiktiven Protagonistinnen Hedwig, einer jungen Frau aus wohlhabendem Haus, und dem Dienstmädchen Anni.

Zusammen mit der frisch in Wien promovierten Physikerin Lise Meitner und dem Dienstmädchen Anni treffen wir mit dem Zug im Berlin des Jahres 1907 ein. Lise hat sich zum Ziel gesetzt, an der Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden bei Max Planck zu forschen. Unterwegs hat sie Anni kennengelernt, die in Berlin eine neue Stelle antritt. Gleich kreuzt die ambitionierte Hedwig ihren Weg. Obwohl in Preußen Frauen der Zugang zum Universitätsstudium noch immer verwehrt wird, möchte sie sich als Gasthörerin Zugang zur Wissenschaft verschaffen. Das erfordert allerdings die Einwilligung ihres Ehemanns, die sie fälscht, um zu ihrem Ziel zu gelangen.

Auch Lise hat nun mit den bürokratischen und patriarchalischen Widerständen zu kämpfen. Wenigstens ergibt sich bald die Möglichkeit, zusammen mit dem Chemiker Otto Hahn über Radioaktivität zu forschen, allerdings als unbezahlter Gast. Um zu überleben, muss sie nebenbei privaten Unterricht erteilen. Mit Hahn verbindet sie bald eine enge Kameradschaft (die ihre gemeinsame Forschung 30 Jahre lang halten wird). Um in ihre Laborräume zu gelangen, muss Lise allerdings einen Hintereingang benutzen. Auch die Vorlesungs- und Versuchsräume der Studenten darf sie als Frau (noch) nicht betreten.

Einem Dienstmädchen niederer Herkunft wie Anni wird kein Recht auf Bildung zugesprochen. Heimlich liest sie sich durch die Bibliothek ihres neuen Arbeitsgebers, des preußischen Kulturpolitikers Friedrich Althoff. Erst die neuen Freundinnen ermutigen sie, eine Weiterbildung zu wagen.
Die drei so unterschiedlichen Frauen werden bald zu guten Freundinnen, intimen Vertrauten und solidarischen Verfechterinnen der Frauenrechte. Denn es ist an der Zeit, dass den Frauen endlich das Recht auf Bildung, Studium und Gleichberechtigung in der Gesellschaft zugestanden werden. Daneben hoffen die Drei auch auf persönliches Glück. Doch die Liebe hat wenig Platz, das Ringen um Bildung und wissenschaftliches Weiterkommen in der universitären Männerwelt stößt ständig auf Widerstände.
Der Roman endet im Kriegsjahr 1915, das die Drei zunächst vor ganz neue und unerwartete Aufgaben stellt.

Fazit
Die Autorin hat für ihren Roman eine für die deutsche Frauenbewegung zentrale Stelle auf der Zeitschiene ausgewählt. Im Jahr 1908 wurde den Frauen der Zugang zum Studium an den Universitäten ermöglicht. Bis zum Wahlrecht oder zur Möglichkeit der Habilitation ging aber noch einmal mehr als ein Jahrzehnt ins Land. Die Stimmung unter den Frauen ist gut eingefangen. Geschickt hat die Autorin drei Protagonistinnen unterschiedlicher geografischer und sozialer Herkunft und mit verschiedenen Ausbildungen gewählt. Alle drei nehmen andere Startpositionen ein, sind aber von demselben Wissensdurst getrieben. Sie unterstützen und stärken sich gegenseitig – echte Frauenpower. Kein Wunder, dass sie einem bald ans Herz wachsen.

Man nimmt immer wieder wahr, wie gut die Autorin recherchiert hat. So kann man wunderbar in diese spannenden Zeiten eintauchen und lernt noch eine Menge dazu. Ebenso informativ wie auch unterhaltsam wird man als Leser*in in die Forschungsthematik Meitners und die Geschichte der heutigen Humboldt-Universität „Unter den Linden“ eingeführt.
Der Roman liest sich gut und flüssig. Auf diese Weise spricht er eine breite Leserschaft an. Bei diesem immer noch sehr aktuellen Thema ist das sehr erfreulich.

Zum Abschluss stellt Ann-Sophie Kaiser noch einmal die Biographie Lise Meitners und den Kampf um die Frauenbildung in den historischen Zusammenhang. Es ist wichtig, auch hier wieder an den weiteren Lebensweg der bedeutenden realen Protagonistin zu erinnern:
Lise Meitner gehört inzwischen zu den bekanntesten Physikerinnen des 20. Jahrhunderts. Später, nach dem Ende der Romanhandlung, wird sie die erste deutsche Physik-Professorin und mit Otto Hand die Kernspaltung entdecken. Dafür wird Hahn mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, während Lise Meitner leer ausgeht.

Einziger Kritikpunkt: Ich hätte mir für diesen Roman einen ansprechenderes Cover und einen treffenderen Titel gewünscht. Es wäre doch schade, wenn manche Interessenten sich davon vom Lesen abhalten ließen.