Ein Buch wie eine Zeitresie

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romy_abroad Avatar

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Wir schreiben das Jahr 1907 als die Geschichte von Lise, Hedwig und Anni in Berlin beginnt. Lise und Anni treffen sich im Zug: Anni ist unterwegs nach Berlin, weil sie dort ihre neue Stelle als Dienstmädchen bei einem neuen Dienstherren antreten soll. Allein bei dem Gedanken an ihre alte Dienststelle bildet sich ein Kloß in ihrem Hals und Tränen schießen ihr in die Augen. Lise hingegen ist ganz vergnügt und aufgeregt: Nachdem sie in Wien bereits erfolgreich Physik studiert hat, will sie ihr Studium nun auch in Berlin fortsetzen, wo die Wissenschaft gerade große Fortschritte macht, besonders was das neue Forschungsfeld der Radioaktivität angeht, für das sich Lise besonders interessiert. Als Tochter aus der Oberschicht konnte sie Privatunterricht nehmen und das Abitur machen, und jetzt finanzieren ihre Eltern ihr sogar ihr Studium. Noch am Bahnhof treffen die beiden auf Hedwig: Die verheiratete junge Frau ist in heller Aufruhr. Endlich ist der Tag gekommen, auf den sie so lange gewartet hat: Ihr Ehemann August ist zur Kur in ein Sanatorium gefahren, und Hedwig bleibt allein in Berlin zurück. Diese Zeit will sie nutzen, um heimlich an der Universität Vorlesungen zu besuchen - die Unterschrift ihres Ehemanns hat sie dafür wochenlang geübt, denn erlauben würde er ihr dies natürlich nicht. Aus der Zufallsbegegung der drei Frauen entwickelt sich über die nächsten Wochen und Monate hinweg eine tiefe Freundschaft. Obwohl ihre Lebensumstände sich deutlich voneinander unterscheiden, so verbindet sie doch ihre Neugier, ihr Wunsch nach Freiheit, Unabhängigkeit und Anerkennung. Eine Herausforderung nach der anderen stellt die Frauen auf die Probe: sei es ihr berufliches oder ihr privates Umfeld, die Forschung oder die Liebe - immer wieder müssen sie sich aufs Neue beweisen, Einschüchterungsversuchen begegnen und Männer finden, die auf ihrer Seite stehen. Denn es gibt mehr als genug mächtige Herren, denen Frauen in der Forschung und an der Universität, überhaupt mit Abitur ein Dorn im Auge sind.

Anni, Lise und Hedwig habe ich alle drei auf ihre ganz eigene Weise im Laufe der Erzählung lieb gewonnen. Während Anni mich mit ihrem Mut und ihrer Neugier überrascht hat, haben mich Hedwig und Lise mit ihrer Beharrlichkeit und ihrem Durchhaltevermögen beeindruckt. Obwohl die Erzählung keinem klassischen Spannungsbogen folgt, macht es Spaß die Geschichte der drei zu verfolgen und mit jedem Kapitel ihre Fortschritte und Erfolge zu entdecken. Die Autorin hat einen sehr anschaulichen Erzählstil und ich hatte immer wieder das Gefühl, selbst die die Straßen Berlins im 20. Jahrhundert entlang zu schlendern und mich auf eine Zeitreise zu begeben. Durch die Kombination aus historischen und fiktiven Figuren ist das Buch unterhaltsam und edukativ zugleich und hat bei mir eine besondere Art der Dankbarkeit und eine ganz neue Wertschätzung für die Privilegien, die ich heute als Frau und als Studentin genießen darf, ausgelöst. Selbstverständlichkeiten wie mein Studium, meinen Beruf, die Möglichkeit zu heiraten wenn und wen ich möchte - all diese Dinge waren vor nur 100 Jahren alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Deshalb ist es gut und wichtig, dass wir uns diese Tatsache immer wieder ins Gedächtnis rufen, und nicht vergessen, dass es Frauen gibt, die uns diese Möglichkeiten erkämpft haben - und denen wir dankbar sein sollten.