Frauendiskriminierung im preußischen Bildungswesen

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Kurzbeschreibung (Quelle: Verlagsseite)
Berlin, 1907: Die junge Wissenschaftlerin Lise kommt nach ihrer Promotion an die Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden, um bei Max Planck zu forschen. Dass Frauen in Preußen offiziell noch nicht an Universitäten zugelassen sind, kann sie nicht aufhalten. Schon bald arbeitet sie neben Otto Hahn. Das Schicksal führt sie mit zwei Frauen zusammen: Hedwig musste die Unterschrift ihres Mannes fälschen, um die Uni besuchen zu können – denn ohne die Zustimmung des Ehemannes geht nichts. Anni arbeitet als Dienstmädchen beim berühmten Friedrich Althoff und liest sich heimlich durch dessen Bücherregal. Die drei unterschiedlichen Frauen werden zu engen Verbündeten, die gemeinsam um ihr Glück, die Liebe und das Recht auf Wissen und Bildung kämpfen. Denn die Widerstände in der männlichen dominierten Universitätswelt sind hoch.
Die Figur Lise erinnert an Lise Meitner (1878–1968), eine der bekanntesten Physikerinnen des 20. Jahrhunderts. Sie war die erste deutsche Physik-Professorin und entdeckte die Kernspaltung.
"Ob Frauen studieren dürfen? Ob Frauen studieren können? Ob Frauen studieren sollen? Mir persönlich erscheinen diese Untersuchungen ebenso müßig, als wollte jemand fragen: Darf der Mensch seine Kräfte entwickeln? Soll er seine Beine zum Gehen gebrauchen?" Hedwig Dohm

Autorin (Quelle: Verlagsseite)
Ann-Sophie Kaiser ist in Berlin geboren und lebt auch heute noch hier. Sie hat für ein kurzes Semester Physik an der Humboldt-Universität studiert, bevor sie erkannt hat, dass sie lieber etwas mit Schreiben machen möchte. Sie liebt es, in den Berliner Seen zu schwimmen und sich bei ausgedehnte Stadtspaziergänge durch die Kieze in das historische Berlin zurückzudenken. "Unter den Linden 6" ist ihr erster historischer Roman.

Allgemeines
Erschienen am 15. Juni 2020 im Ullstein Verlag als broschiertes TB mit 464 Seiten
Gliederung: Zwei Hauptteile mit nummerierten Kapiteln, die wiederum in kürzere Kapitel aus wechselnden Perspektiven aufgeteilt sind
Erzählung in der dritten Person aus wechselnden Perspektiven
Handlungsort und -zeit: Berlin, 1907 bis 1915

Inhalt
Der Roman schildert das Leben dreier sehr unterschiedlicher Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eine der Hauptfiguren ist eine historische Persönlichkeit, die beiden anderen sind fiktiv, ihre Lebensläufe wirken jedoch vor dem Hintergrund der Zeit glaubwürdig.
Die berühmte Physikerin Lise Meitner (1878 – 1968) kommt aus Wien 1907 nach Berlin, um an der dortigen Universität zu forschen. Trotz ihres erfolgreich abgeschlossenen Studiums und ihrer Kompetenz wird sie den männlichen Physikern gegenüber immer wieder zurückgesetzt. Sie verdient für dieselbe Arbeit zunächst gar nichts und dann nur 60 Prozent des Gehalts ihrer männlichen Kollegen, sodass sie ihren Lebensunterhalt mit Privatunterricht für junge Mädchen bestreiten muss.
Hedwig Brügger ist eine wohlhabende Fabrikantentochter, die von ihrem Vater mit einem ungeliebten Mann verheiratet wurde. Als ihr Mann für längere Zeit in ein Sanatorium muss, schreibt sie sich als Gasthörerin an der Universität ein. Eine reguläre Immatrikulation ist Frauen 1907 noch nicht gestattet.
Auch als Gasthörerin muss sie sich Diskriminierung und Respektlosigkeiten von den Studenten und Professoren aussetzen, sie ist jedoch nicht gewillt, sich das bieten zu lassen.
Anni ist ein Dienstmädchen aus einer armen Bauernfamilie, das sich nichts sehnlicher wünscht als eine höhere Bildung. Sie schleicht sich nachts in die Bibliothek ihres Dienstherrn, Friedrich Althoff, und liest heimlich in den Büchern seiner Bibliothek.
Eher zufällig begegnen sich die drei Frauen in Berlin und werden trotz ihres unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergrunds zu Freundinnen, vereint im Bestreben, für die Verbesserung der Situation der Frauen im Bildungswesen zu kämpfen.

Beurteilung
Der Roman gibt einen sehr guten Einblick in das Leben und die Gesellschaft Berlins (Preußens) zu Beginn des 20. Jahrhunderts, besonderes Augenmerk gilt dabei den (eingeschränkten) Rechten der Frauen, denen allein aufgrund ihres Geschlechts eine höhere Schulbildung und das Hochschulstudium verwehrt sind. Sogar der Status der Gasthörerin ist nur schwer zu erringen und selbst volljährige Frauen bedürfen der Genehmigung des Vaters oder des Ehemannes, um Vorlesungen zu hören. Professoren, die Frauen an der Universität gegenüber aufgeschlossen sind, bilden eine Ausnahme.
Jede der drei Hauptfiguren hat ihr eigenes Schicksal, gemeinsam ist ihnen der Kampf gegen einengende Konventionen. Es wird aus wechselnden Perspektiven berichtet, was die Lektüre kurzweilig und abwechslungsreich macht. Dabei gelingt es der Autorin, jeder der drei Frauen eine detailliert ausgearbeitete Persönlichkeit zu verleihen.
Der Erzählstil ist flüssig und anschaulich, manchmal ein wenig zu sentimental, auf jeden Fall erzeugt er beim Leser bleibende Eindrücke.
In einem recht ausführlichen Nachwort werden Informationen zum weiteren Lebensweg Lise Meitners sowie zu den Tätigkeiten von diversen Frauenrechtlerinnen der Zeit präsentiert.

Fazit
Ein lesenswerter Roman, der eindrucksvoll verdeutlicht, welch unfassbarer Diskriminierung „bildungshungrige“ Frauen sich noch vor gut hundert Jahren ausgesetzt sahen!
4,5 Sterne