Historischer Roman über drei Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts, die sich ihrer eigenen Stimme bewusst werden

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gluexklaus Avatar

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„Ob Frauen studieren dürfen [..] können [..] sollen?
Mir persönlich erscheinen diese Untersuchungen ebenso müßig, als wollte jemand fragen: Darf der Mensch seine Kräfte entwickeln? Soll er seine Beine zum Gehen gebrauchen?“ Hedwig Dohm

1907 lernen sich die Wienerin Lise Meitner und die schüchterne Anni im Zug nach Berlin kennen. Lise hat in ihrer Heimatstadt Physik studiert hat und will ihre Ausbildung an der preußischen Friedrich-Wilhelms-Universität fortsetzen. Anni, die bisher ihr Leben auf dem Land verbracht hat, wird nun in Berlin eine Stelle als Hausmädchen antreten. Am Bahnsteig treffen sie auf die gutsituierte Bürgerliche Hedwig, die ihren schwer kranken Mann zur Kur verabschiedet. Die drei unterschiedlichen Frauen werden später immer wieder durch Zufall zusammen kommen und schließlich sogar Freundinnen. Während Anni allmählich, z.B. in Gesprächen mit ihrem neuen Hausherren, ihren Bildungshunger und ihren Wissensdurst entdeckt, setzt Hedwig alles daran, an der Universität Geschichte studieren zu dürfen, Lise hingegen möchte irgendwann ihren Lebensunterhalt als Forschende verdienen. Doch bis Frauen in der Welt der Universität anerkannt werden, ist es noch ein langer, steiniger Weg.

Abwechselnd stehen die drei verschiedenen Hauptfiguren Lise, Hedwig und Anni im Fokus des Geschehens. Ann-Sophie Kaisers gelang es mit ihrem flüssigen, gut lesbaren Schreibstil rasch, mich für ihre Geschichte zu gewinnen.

Drei ganz verschiedene Hauptpersonen, drei unterschiedliche Lebensentwürfe: Lise Meitner hat schon einiges erreicht, ihre Leidenschaft gehört der Erforschung der Radioaktivität, sie ist im Gegensatz zu ihren beiden Freundin keine fiktive Figur, sondern hat wirklich gelebt und Bedeutendes in ihrem Fachgebiet geleistet. Die zurückhaltende, bescheidene Anni erkennt erst im Laufe der Geschichte den Wert von Lernen, Wissen und Bildung. Hedwig hingegen weiß genau, was sie möchte, „richtig“ studieren, mit offiziell gültigem Abschluss. Alle Frauen sollen ihrer Meinung nach das Recht auf eine akademische Bildung haben. Hedwig eckt mit ihrer direkten Art des Öfteren in konservativen Kreisen an .
Lise, Hedwig und Anni kämpfen für ihre Rechte „im Kleinen“, versuchen für sich und andere Frauen, neue Möglichkeiten der Bildung zu erreichen, richtige „Vorreiterinnen“, Kämpferinnen für die Frauenbewegung, sind sie aber nicht, sie gehen nur kleinere Schritte - im Rahmen ihrer Möglichkeiten- in Richtung Emanzipation. Aber auch kleine Schritte führen irgendwann zum Ziel. Dass viele bedeutende historische Persönlichkeiten wie Max Planck, Otto Hahn, Otto Laue oder Hedwig Dohm im Roman wiederholt vorkommen, hat mir sehr gut gefallen, mich neugierig gemacht und mich angeregt, mehr über deren Biografien zu erfahren.

„Unter den Linden 6“ ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es darum, wie die drei Frauen sich persönlich entwickeln und sich weiterbilden. Der zweite Teil bezieht historische Ereignisse, so den Beginn des ersten Weltkriegs mit ein, der erheblichen Einfluss auf Anni und ihre Freundinnen hat und ihre Situation vollständig verändert. Durchgehend war ich von der Handlung um die sympathischen und authentischen Hauptpersonen gefesselt.
Dass Lise Meitner auf dem für Frauen ungewöhnlichem Gebiet der Physik forscht, empfand ich als interessante, erfrischende Abwechslung. Physik ist ein Thema, das man in Frauenromanen eher selten findet.

Für mich ein sehr unterhaltsamer, packender Roman über beeindruckende Frauen, die nicht unbedingt Suffragetten sind, aber trotzdem viel für sich und andere Frauen erreicht haben.
Anni fasst eine wichtige Botschaft des Romans im Gespräch mit Lise und Hedwig treffend zusammen:
„Ihr beide habt mir gezeigt, dass man seinen eigenen Weg finden muss. Und sich dann nicht davon abbringen lassen darf. Gerade, wenn man eine Frau ist und andere einem ständig vorschreiben, was man zu tun und zu lassen hat. Dann übersieht man schnell, dass nichts davon Gewicht haben darf, wenn man es nicht auch selbst will. Nur übertönen die anderen Stimme die eigene Stimme. Und da ist es wichtig, eben gut zuzuhören. Wie ihr beide.“