Noch fünf Sterne für Gleichberechtigung und Forschung in Preußen

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elke seifried Avatar

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»Die Universität?« Anni lehnte sich neugierig vor. »Da dürfen doch Frauen gar nicht hin!« »Ach was«, sagte Lise. »In Wien ging es ja auch! Ich habe in Physik bereits einen Abschluss gemacht. Auch bei uns gab es ein paar Männer, die das nicht gern gesehen haben, und ich habe mir so manches sagen lassen müssen, aber alles in allem geht es ja um die Sache. Weißt du, das ist es nämlich, was ich an den Naturwissenschaften so liebe: Sie sind für jeden gleich.<<
Etwas was zwischen Männern und Frauen leider längst nicht so ist. Davon, vom Kampf um Gleichberechtigung und von der Begeisterung für die Wissenschaft erzählt „Unter den Linden 6“

Lise hat in Wien alles hinter sich gelassen in der Hoffnung ihre Studien zur Radioaktivität in Berlin besser vorantreiben zu können. Auf dem Weg dorthin ist auch Anni, die in Berlin eine neue Stelle als Dienstmädchen antreten muss. Am Anhalter Bahnhof angekommen, treffen die beiden, die sich im Zug ein wenig angefreundet haben, auf Hedwig, die gerade ihren Mann August zum Zug in ein Sanatorium gebracht hat. Drei Frauen die unterschiedlicher nicht sein könnten, die eigentlich bis zu diesem Zeitpunkt nur verbindet, das für alle gilt, „Es ist wie eine Krankheit, dachte Anni. Der Drang nach Wissen war bei ihr wirklich wie eine Seuche.“.

Als Leser lernt man die nacheinander Lise, Anni und auch Hedwig, die stellvertretend für die Frauen im Preußen des beginnenden 20. Jahrhunderts leben, kennen. Während man Lise dann auf ihrem steinigen Weg als Physikerin bei der Erforschung der Radioaktivität begleiten darf, schmuggelt man sich mit Hedwig, einer gefälschten Unterschrift ihres Ehemanns in der Tasche, als Gasthörerin an die Universität und kämpft mit ihr anschließend um erste Schritte der Gleichberechtigung im Bildungswesen und mit Anni darf man das Leben eines Dienstmädchens mit dem Wunsch nach Bildung, der der armen Bevölkerung doch so oft verwehrt blieb, leben. Wie weit die drei Frauen bei der Erfüllung ihrer Träume kommen, wird natürlich nicht verraten.

»Wir forschen gerade hauptsächlich an Mesothorium und Radium und deren Betastrahlung. Wir wollen Geschwindigkeit und Durchdringungsvermögen möglichst genau bestimmen. Man weiß noch recht wenig über Betateilchen, ich hatte dir ja bereits davon erzählt, den Elektronen, erinnerst du dich?« Durch Lises Studien gemeinsam mit Otto Hahn erfährt man als Leser einiges über die Forschung an der Röntgenstrahlung. Jedes Mal wieder verlangt es mir großen Respekt ab, dass Wissenschaftler früherer Zeiten ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit wie hier z.B.in radioaktiv verseuchten Labors gearbeitet haben, teils wissend um die Gefährlichkeit der Substanzen, teils aber vielleicht auch noch hoffend, man könne eventuell mit Toilettenpapier Strahlung von einer Türklinke abhalten. Einigen bekannten Namen, wie Otto Hahn oder auch Max Plack, begegnet man hier und auch Lise hat ja ein real existierendes Vorbild, was man in einem tollen Nachwort, das noch einmal alle historischen Fakten beleuchtet, erfährt. Mit Hedwig geht es eher im Studium eher in Richtung Geschichte und Literatur, bei ihr steht auch mehr der Kampf um Gleichberechtigung im Vordergrund und Anni, das Dienstmädchen, saugt Wissen in jeder Richtung auf. Da erklärt der Dienstherr, nachdem er ihr, damit ihr die Augen nicht überquellen vor Neugier, erlaubt hat zu fragen, schon mal von einem Otto Lilienthal »Er ist der Erste gewesen, der mit einem Flugzeug erfolgreich Gleitflüge unternommen hat. Er hat gleich da drüben gewohnt. Hier in Groß-Lichterfelde war auch sein Flughügel.« Er zeigte vage über den Kanal. Die Autorin bietet mit dem Porträt der drei verschiedenen Frauen eine kleine Schatztruhe an Wissen. Gut dabei gefallen hat mir auch der Einblick in die Welt der Universität zu dieser Zeit, kann man sich doch heute Szenen wie „Er saß in der ersten Reihe schräg vor Lise und rauchte bereits seine dritte. Wenn überhaupt, vernebelte lediglich der Zigarettenrauch die Sicht auf Professor Planck, der gerade einen Schritt von seiner Tafel zurücktrat.“, gar nicht mehr vorstellen.

>>Kommen Sie vom Mond?<< ist die Frage, die eine euphorische Lise bei ihrer ersten Vorstellung an der Universität, als Antwort auf die Bitte nach Immatrikulation erhält. »Bei uns in Preußen läuft es so: Sie sind eine Frau, und Frauen können sich an dieser Universität nicht immatrikulieren. Wir sind eine Traditionsuniversität! Ob sie nun bereits Physik studiert haben oder nicht.« Als Leser erfährt man hier natürlich auch unheimlich viel über die Gleichberechtigung und den harten Kampf um die Anerkennung der Frauen im Bildungswesen. Man erlebt die Demütigungen nicht nur im Hörsaal mit und verfolgt die kleinen Zugeständnisse, die nicht selten mit Hintertürchen versehen sind. >>Das, meine Herren, nenne ich Taktik. Die Frauenbewegung ist dieser Tage kaum noch zu halten in ihrer Penetranz. Sie hätten die Damen sehen sollen, die hier neulich vorgesprochen haben. Werfen wir ihnen also ein paar Krumen vor, die sie den ganzen Kuchen vergessen lassen.« Zudem darf man auch einer Hedwig bei ihren Aktionen, wie z.B. >> … um so richtig zu provozieren. Wir nehmen uns einfach heraus, unseren eigenen ›Wichs‹ zu kreieren und aufzumarschieren, als wären wir ebenfalls eine richtige Burschenschaft. Wie könnte man besser deren Traditionen unterlaufen?«, einer historisch belegten Tatsache, über die Schulter schauen.

Der lebendige, besonders anschauliche Sprachstil der Autorin liest sich locker, leicht. Sie verwendet bei ihren Beschreibungen viele Bilder und ich hatte so z.B. die Umgebung stets vor Augen. „wann und wie so etwas Schönes gebaut werden konnte und was für eine Arbeit darin steckte. So aber stand sie nur staunend da und bewunderte das Gebäude. Es sah aus wie ein Schloss. Hohe Säulen schmückten das große Gebäude an der Front, und obendrauf prangten mehrere Statuen, die man von hier unten kaum erkennen konnte, aber sie schienen wissend in die Welt hinauszuschauen. Die Eingangstür stand offen, und ab und zu schritt ein Student beherzt von dort in den begrünten kleinen Vorgarten, der die Universität von der lauten und trubeligen Straße »Unter den Linden« trennte.“. Hat man doch bei einer solchen Beschreibung das Gefühl, selbst mit Lise das erste Mal auf die Universität zugehen zu dürfen oder auch die eher jämmerliche Unterbringung in der Holzwerksatt konnte ich mir bestens ausmalen. Diese doch teils ausladenenden Beschreibungen lassen einen richtig mitleben, bergen aber auch immer wieder ein wenig die Gefahr, dass Längen entstehen, wenn man sich nicht wirklich für die Sache, die vielen interessanten historischen Details, oder auch Hedwigs Einfälle interessiert. Aber ich liebe historische Romane, bei denen ich auch Details, die nicht im Schulbuch zu finden sind, erfahre, wie z.B. dass zu der Zeit >>….ein Fahrradrennen für Frauen«, brach es nun auch schon aus Hedwig heraus. »Das ist natürlich illegal«, fügte sie dann hinzu, als sie nun auf die Wiese traten. »Zumindest sittenwidrig allemal, schaut euch nur die Hosen an! Herrlich, oder?«, veranstaltet wurden oder warum die Universität so prächtig aussieht, „»Das alles war einst ein Lustschlösschen für einen Prinzen, erbaut von seinem liebenden Bruder. Friedrich der Große hat das Schloss für seinen jüngeren Bruder Heinrich eigens entworfen! Nun, die Liebe wurde nicht erwidert, aber ein schönes Schloss ist es geworden.“ Abwechslung verschafft die Tatsache, dass die Autorin die Geschichte immer abwechselnd aus der Perspektive der drei Frauen erzählen lässt. Mir hat gut gefallen, dass man den Personen so näher sein kann. Für völlige Begeisterung hat mir insgesamt aber noch eine Prise an Spannung, die ich zwar immer wieder mal bei einzelnen Szenen verspürt habe, gefehlt. „Lise zuckte die Schultern, auch wenn sie selbstverständlich ebenfalls etwas enttäuscht war. Aber andererseits war sie Rückschläge ja gewohnt, so war das nun einmal, wenn man einem so launischen Phänomen wie der Radioaktivität auf die Schliche zu kommen versuchte. Außerdem hatte sie das Gefühl, der Erfolgsdruck lastete nicht so sehr auf ihr wie auf Hahn.“. Ein wenig mehr Brennen nicht nur für die Versuche, die klar ohne Rückschläge nicht real wären, aber insgesamt für alles hat mir hier bei allen drei Frauen ein wenig gefehlt. Ich habe interessiert gelesen, hatte tolle, kurzweilig und informative Unterhaltung, aber dass ich mit einer so richtig mitgefiebert hätte, dass es etwas gab, dass mich regelrecht an die Seiten geklebt hätte, kann ich leider nicht behaupten.

Die zielstrebige Lise hat mich mit ihren Studien, hinter die sie alles zurückstellt, mit ihrer freundlichen, stets die Fassung und die Höflichkeit wahrend, am meisten beeindruckt. Eine tolle Frau, schade, dass sie und ihr reales Vorbild Lise Meitner viel zu wenig Anerkennung bekommen haben. So richtig zum Mögen war für mich Anni. Mir ihr habe ich schon das eine oder andere Mal gebangt, wenn sie sich nachts heimlich in die Bibliothek schleicht und mich auch mit ihr gefreut, über die kleinen Zugeständnisse und die Chancen, die sie bekommt. Nicht ganz so viel konnte ich mit Hedwig anfangen, die für ihren Kampf um die Gleichberechtigung lebt und für die ab und an gilt, „Und Hedwig musste einsehen, dass diese ganze Aktion hier– von Anfang bis Ende– nicht ganz so durchdacht gewesen war, wie sie eben noch mutig behauptet hatte. Erreicht hatte sie jedenfalls nichts. Zumindest nichts, was einem Schritt nach vorne gleichkäme. Stattdessen hatte sie wieder nur Unsinn gemacht.“

Alles in allem ein grandios recherchierter historischer Roman, der mir informativ, kurzweilige Unterhaltung geboten hat und auch wenn ich mir eine Prise mehr Spannung erwünscht hätte noch fünf Sterne verdient.