Was bedeutet es, eine Frau zu sein?

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ismaela Avatar

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Ich habe ein bisschen viel erwartet, wurde ein bisschen enttäuscht, und danach aber auch wieder ein bisschen versöhnt.
Ann-Sophie Kaiser verwebt in ihrem Roman drei Frauenleben, von denen eines auf einer tatsächlichen Person beruht - nämlich Lise Meitner - und beschreibt anhand dieser drei Charaktere die Zeit um den Ersten Weltkrieg herum, in der die Frauenbewegung in Deutschland langsam an Fahrt aufnimmt.
Ich bin ein großer Fan von (Natur-)Wissenschaftlerinnen, und vor allem die Frauen in der Chemie und Physik finde ich faszinierend. Deshalb war ich auch auf diese Geschichte sehr gespannt.
Natürlich weiß frau von vornherein, dass es sich bei dem vorliegenden Roman mehr um Fiktion handelt, denn um eine biographische Sachlage - und dementsprechend sollte man auch nicht jedes Detail auf die Goldwaage legen. Aber von Zeit zu Zeit hätte ich mir durchaus ein bisschen mehr Schärfe gewünscht. Zwar beschreibt Kaiser die Frustrationen der Frauen jeweils ganz gut (Hedwig möchte studieren, kann das aber nur, indem sie die Unterschrift ihres Mannes fälscht, Anni ist als Dienstbotin ohnehin der Bildung an sich sehr weit entfernt und Lise hat als ausgebildete Physikerin mit messerscharfem Verstand trotzdem kaum Aussicht auf eine "normale" Stellung an einem Forschungsinstitut, weil sie eben NUR eine Frau ist), aber viel zu oft kommt dann doch die Wohlfühlblase hochgestiegen. Aber zum Glück ist das insgesamt gesehen nicht allzu ärgerlich - jedenfalls für mich nicht.
Kaiser schreibt sehr flüssig und teilweise recht ambitioniert, auch wenn das Ganze ab und an dann doch wieder leicht ins klischeehafte abrutscht, vor allem, wenn die junge und unerfahrene Anni ständig schamhaft errötet, oder die forsche Hedwig immer etwas gestellt wirkt, wenn sie "aufbraust". Lise Meitner ist meiner Meinung nach am besten gelungen, vielleicht war da der Respekt vor der "realen" Person dann doch ein bisschen groß.

Alles in allem ist "Unter den Linden 6" ein sehr nettes Buch für faule Leseabende (und -nachmittage und -morgen), und eine (aller!)erste gute Schmökergrundlage, wenn man sich mit dem Thema Frauenbewegung ein bisschen tiefer befassen will.